Zusammenhalt – ein Begriff wird verbogen
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht der "gesellschaftliche Zusammenhalt" beschworen wird und jemand aus dem linken Parteienspektrum warnt, dass er gefährdet sei. Mal ist es die angeblich wachsende Schere zwischen Arm und Reich, die "den sozialen Zusammenhalt bedroht". Dann sind es Facebook und Twitter, die ihn zersetzen. Und natürlich die "Populisten" – von rechts – die nicht nur den Zusammenhalt, sondern gleich den "gesellschaftlichen Konsens" in Frage stellen. Kein Wunder, dass der Punkt "aktuelle Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts" auch Thema beim ersten Treffen der deutschen Bischöfe mit Bundespräsident Steinmeier war.
Wenn Begriffe inflationär gebraucht werden, biegen sich Politiker sie gerne nach Bedarf zurecht. So geschieht das auch mit dem "gesellschaftlichen Zusammenhalt". Dabei steckt dahinter eigentlich ein ziemlich komplexer, differenzierter Ansatz. Neun Dimensionen umfasst er, wenn man den Fachleuten von der Bertelsmann-Stiftung folgt. Sie haben das Phänomen im internationalen Vergleich, aber auch aufgefächert nach Bundesländern, mehrfach untersucht. Dazu zählen unter anderem das Vertrauen in die Mitmenschen und Institutionen, Hilfsbereitschaft, das Akzeptieren anders denkender und lebender Menschen, die Orientierung am Gemeinwohl und das Halten an grundlegende soziale Regeln.
Man sieht: "Gesellschaftlicher Zusammenhalt" ist keineswegs identisch mit einem Bekenntnis zu den Grundwerten der Sozialdemokratie! Es geht nicht automatisch um eine annähernd gleiche Einkommensverteilung oder um das Vertrauen auf einen starken Staat, der sich um die Schwachen per Gesetz und Umverteilung kümmert. Vielmehr ist dieser Zusammenhalt auch kompatibel mit Wertegerüsten liberaler Bauart. Deshalb schneiden beim "Zusammenhalts-Ranking" freiheitlich tickende Länder wie die USA oder die Schweiz nicht schlechter ab als die eher sozialdemokratisch-staatsorientierten Bundesrepubliken Deutschland und Österreich. Und unter den großen Bundesländern liegt beim gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht etwa die langjährige sozialdemokratische Hochburg NRW ("NRWir") vorne, sondern Baden-Württemberg und Bayern.