Zerreißprobe Lebensschutz
Vor 25 Jahren, am 26. Mai 1992, trat die deutsche Fußballnationalmannschaft im Finale der Europameisterschaft gegen den Außenseiter Dänemark an – und verlor. Eine Schmach für den frisch gebackenen Weltmeister. Vielen in der Kirche ist dieser Tag dennoch möglicherweise eher aus einem anderen Grund als Niederlage in Erinnerung: Damals beschloss der Bundestag nach jahrelangem zähen Ringen eine neue Abtreibungsregelung. Mit 357 Ja- und 284 Nein-Stimmen stimmten die Abgeordneten für eine sogenannte "Fristenlösung mit Beratungspflicht". Danach kann eine Frau in den ersten 12 Wochen ihrer Schwangerschaft ohne strafrechtliche Konsequenzen abtreiben, wenn sie sich vorher hat beraten lassen.
Mit der Abstimmung hatte eine der großen gesellschaftlichen Debatten der Zeit ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss erreicht. Zwar wurde das Gesetz wegen einer Intervention des Bundesverfassungsgerichts in der Folge noch gekippt und durch ein anderes ersetzt – die Kernregelung aber blieb. Für die katholische Kirche in Deutschland, die sich nachdrücklich für den Lebensschutz von Anfang an einsetzt, stellte der Beschluss jedoch keinen Endpunkt dar, sondern den Beginn eines innerkirchlichen Konflikts, der zu einer regelrechten Zerreißprobe führen sollte.
Linktipp: Stützende Hände
Eine Schwangerschaft stellt Familien vor Herausforderungen. In dieser Situation und später können Eltern eine helfende Hand gut gebrauchen. Dafür sorgt etwa der Sozialdienst katholischer Frauen. (Artikel von September 2015)Denn bis dato waren die kirchlichen Schwangerschaftsberatungsstellen noch voll im staatlichen System verankert. Doch sollten sie in Zukunft die gesetzlich geforderten Beratungsscheine ausstellen, so würde Frauen damit der Weg für eine Abtreibung eröffnet. Für die Kirche ist das menschliche Leben aber in allen seinen Phasen und Formen unbedingt schützenswert, beginnend mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle. Doch auch die Gegenseite, die für den Verbleib im staatlichen System war, brachte ihre Argumente vor: Wenn von vornherein feststehe, dass es keinen Beratungsschein gibt, dann verlöre die Kirche den Zugang zu Frauen in Konfliktsituationen und lasse damit die Chance ungenutzt, sie vielleicht doch noch von ihrem Kind zu überzeugen.
Erbitterter Gegner der Überlegung, im staatlichen System zu bleiben, war der damalige Fuldaer Bischof Johannes Dyba, der sich mit mehr als markigen Worten bis hin zu Entgleisungen in die Diskussion einbrachte und unter anderem von einem "Kinder-Holocaust" sprach. "Wir sind offensichtlich dafür vorgesehen, mit unseren Beratungsscheinen die Feigenblätter für die Blößen dieses Unrechtssystems zu liefern", schrieb er 1995 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Andere Bischöfe und die Verbände Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) als Träger der Beratungsstellen setzten sich für den Verbleib im staatlichen System ein, um auch Frauen in Konflikten besser helfen zu können.
„Nach meinen Erfahrungen werden jetzt Lebenschancen für Kinder vergeben. Darum kann ich nicht verschweigen, dass mich die Verfügung des Papstes sehr schmerzt.“
Schließlich schaltete sich Papst Johannes Paul II. persönlich ein. Er forderte die Bischöfe auf, keine Beratungsscheine mehr auszustellen, die zur Abtreibung ermächtigten. Dem fügte sich die Bischofskonferenz, nachdem auch ein persönliches Fürsprechen beim Papst nichts genutzt hatte. Im November 1999 verkündete die Bischofskonferenz den Ausstieg aus dem staatlichen System der Schwangerenkonfliktberatung. Nur der damalige Limburger Bischof Franz Kamphaus weigerte sich und setzt die Beratung noch einige Jahre fort, bis der Papst dem ein Ende setzte: "Nach meinen Erfahrungen", erklärte er, "werden jetzt Lebenschancen für Kinder vergeben. Darum kann ich nicht verschweigen, dass mich die Verfügung des Papstes sehr schmerzt", schrieb Kamphaus im März 2002 in einer öffentlichen Erklärung.
Unter den Laien rumorte es stark
Auch unter den Laien rumorte es – so stark, dass noch im Jahr 1999 Mitglieder des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK) auf Konfrontationskurs gingen. Sie gründeten den Verein Donum Vitae, der Schwangere auf Grundlage des christlichen Glaubens berät, aber am Ende dennoch Beratungsscheine ausstellt. Die Liste der Gründungsmitglieder strotzt vor prominenten Namen: unter anderem der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), die früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und Thüringen, Erwin Teufel und Bernhard Vogel (beide CDU) und der damalige ZdK-Präsident Hans Joachim Meyer waren dabei. Vorsitzende von Donum Vitae ist seit Beginn bis heute Rita Waschbüsch, die Vorgängerin Hans Joachim Meyers an der ZdK-Spitze.
Linktipp: Kolping für Rückkehr der Kirche in Schwangerenkonfliktberatung
Das Kolpingwerk fordert umfassenden Lebensschutz: In einem Memorandum kritisiert der Verband gefährliche Tendenzen in Medizin und Gesellschaft. Aber auch an die deutschen Bischöfe richtet er eine Forderung. (Artikel von Oktober 2016)Die Gründung des Vereins wurde von Kirchenvertretern auf das Schärfste kritisiert. Der damalige Nuntius in Deutschland – Giovanni Lajolo – erklärte, die die Initiative befinde sich in offenem Widerspruch zum Papst und zu den Bischöfen. Die Arbeit des Vereins "verdunkelt unvermeidlich das Zeugnis der katholischen Kirche", so Lajolo im Jahr 2000 in einem Brief an den Verein. 2006 verabschiedeten die deutschen Bischöfe eine Erklärung, in der sie Donum Vitae als eine Vereinigung außerhalb der Kirche bezeichneten.
Fragestellungen in der Beratung haben sich gewandelt
Donum Vitae ist heute mit rund 200 Beratungsstellen bundesweit vertreten. Die Gründung des neuen Vereins außerhalb der offiziellen kirchlichen Struktur stellte auch die existierenden Beratungsstellen vor Konflikte. "Es gab damals eine große Zerreißprobe, die auch vor SkF und Caritas nicht Halt machte", erklärt Nadine Mersch, Pressesprecherin des SkF gegenüber katholisch.de. Einige Beraterinnen seien damals aus den Reihen der kirchlichen Verbände zu Donum Vitae gewechselt. Und nach dem Ausstieg habe es zunächst auch eine Delle in der Zahl der Anfragen an die Beratungsstellen gegeben.
Doch 18 Jahre später haben sich die Fragestellungen bei der Schwangerenberatung innerhalb der katholischen Kirche deutlich gewandelt. "Wir erreichen Frauen in ganz unterschiedlichen Lagen", erklärt Mersch. Es gehe eben nicht nur um den Schwangerschaftsabbruch, sondern Paare würden auch von sozialen Fragen umgetrieben: "Können wir uns ein drittes Kind leisten, können wir das Kind mit unserem Beruf vereinbaren – solche Anfragen gibt es sehr häufig", berichtete Mersch. Auch Paare, die Schwierigkeiten dabei haben, ein Kind zu bekommen, kämen in die Beratungsstellen. Und nicht zuletzt werfe auch die Pränataldiagnostik neue Probleme für werdende Eltern auf: Welche Untersuchungen lassen wir durchführen? Und wie gehen wir dann mit dem Ergebnis um? So zeigt sich: der katholischen Schwangerenberatung geht auch ohne Beratungsschein die Themen nicht aus. (mit Material von KNA)