547 Domspatzen wurden Opfer von Übergriffen
Die Untersuchung der Misshandlungs- und Missbrauchsvorwürfe beim weltberühmten Chor der Regensburger Domspatzen ist nach zwei Jahren beendet. In seinem rund 450 Seiten starken Abschlussbericht bezifferte der vom Bistum Regensburg beauftragte unabhängige Sonderermittler Ulrich Weber die Zahl der "hoch plausiblen" Opfer am Dienstag auf 547. Weber sagte vor Journalisten, er gehe weiter von einer Dunkelziffer in Höhe von rund 700 Opfern aus. Der Bericht wurde auf der Internetseite des Rechtsanwalts veröffentlicht.
Insgesamt 500 Domspatzen haben demnach seit 1945 körperliche Misshandlungen erlitten, 67 sexuelle Gewalt. Einige wurden Opfer beider Formen von Gewalt. Als mutmaßliche Täter seien 49 Personen ermittelt worden, 9 von ihnen seien sexuell übergriffig geworden. Unter den Tätern seien Internatsdirektoren, ein Vorschuldirektor, Präfekten und viele Angestellte vertreten. Schwerpunktmäßig haben sich die Taten laut Bericht in den 1960er und 1970er Jahren ereignet. Bis 1992 sei durchgängig von körperlicher Gewalt berichtet worden.
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Die Autoren des Berichts äußerten den Wunsch, dass ihre Arbeit zur Befriedung aufseiten der Opfer beitrage. Die offene Dokumentation solle ihnen helfen, ihre Erlebnisse aus der Kinder- und Jugendzeit verarbeiten zu können. Das Bistum Regensburg hat den Opfern unter anderem sogenannte Anerkennungsleistungen zugesagt. Sie liegen pro Person zwischen 5.000 und 20.000 Euro. Darüber wird auf Grundlage von Webers Bericht in einem gesonderten Gremium entschieden, in dem auch Opfervertreter beteiligt sind. Strafrechtlich seien alle Taten verjährt, sagte der Sonderermittler. Kirchenrechtlich könnten die Taten nur verfolgt werden, wenn die Beschuldigten zum Tatzeitpunkt Priester gewesen seien.
Kritik an Kardinal Müller und Georg Ratzinger
Bei der Vorstellung des Berichts sprach Rechtsanwalt Weber von einer damals vorherrschenden "Kultur des Schweigens". "Nahezu alle Verantwortungsträger" bei den Domspatzen hätten zumindest ein "Halbwissen" von den Gewaltvorfällen gehabt, am Thema jedoch wenig Interesse gezeigt. Der Schutz der Institution habe im Vordergrund gestanden. Opferschicksale seien ignoriert, Beschuldigte teilweise geschützt worden, hieß es.
Linktipp: "Ich will einen Schlussstrich ziehen"
Peter Schmitt ist einer der Opfer-Vertreter beim Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen. Er lobt die Aufarbeitung durch Bischof Voderholzer - und kritisiert Kardinal Müller. (Interview vom 9. Juli 2017)Im Abschlussbericht werden auch Vorwürfe gegen den damaligen Regensburger Bischof und heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller sowie den ehemaligen Chorleiter Georg Ratzinger (93) erhoben. Insbesondere "Domkapellmeister R." sei sein "Wegschauen" und fehlendes Einschreiten "trotz Kenntnis" vorzuwerfen. Es hätten sich jedoch keine Erkenntnisse ergeben, dass Ratzinger von sexueller Gewalt gewusst habe, präzisierte Weber auf Nachfrage. "Pflichtverstöße" der Eltern und "Versäumnisse" der kirchlichen und staatlichen Aufsichtsbehörden hätten mit dafür gesorgt, dass keine Maßnahmen gegen die Gewalt ergriffen worden seien.
Missbrauchsbeauftragter wünscht sich Entschuldigung Müllers
Webers Bericht hält fest, dass "Bischof M." im Jahr 2010 den Aufarbeitungsprozess initiiert habe. Müller habe jedoch die Verantwortung für "strategische, organisatorische und kommunikative Schwächen" in diesem Prozess. Diese seien unter seinem Nachfolger, "Bischof V.", behoben worden. Erst 2014/2015 habe es einen "Paradigmenwechsel" gegeben als erstmals die Opfer direkt bei der Aufarbeitung eingebunden wurden. Heute seien die Domspatzen viel besser im Bereich Gewalt- und Missbrauchsprävention aufgestellt. Es gebe anders als früher "eine hohe Sensibilisierung für die Thematik", so Weber. Bischof Rudolf Voderholzer, der die Diözese seit 2013 leitet, hatte Mitte 2015 eine unabhängige Instanz zur Aufklärung beauftragt sowie Opfern in die Aufarbeitung eingebunden.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, lobte die Aufarbeitung in der Diözese. Er sei froh, dass Voderholzer den Betroffenen gut zugehört und einen guten Aufarbeitungsprozess in Gang gesetzt habe. Nun wäre eine Entschuldigung seines Vorgängers, Kardinal Müller, für die Betroffenen ein wichtiges Zeichen. Der jetzt eingeschlagene Weg sei "vorbildlich". Er hoffe, dass damit von Regensburg ein wichtiges Signal ausgehe, wie wichtig neben der Aufarbeitung Prävention und bedarfsgerechte Hilfen seien. Den Jungen sei unendlich viel Leid angetan worden, so Rörig. (luk/bod/KNA)
18. Juli 2017, 12:20 Uhr:Meldung um Details um Ratzinger und Müller ergänzt
18. Juli 2017, 14:20 Uhr: ergänzt um Statement des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung