"Jesus hat auch keinen Talar getragen"
Frage: Guy Gilbert, Sie feiern bald Ihren 82. Geburtstag. Was wünschen Sie sich?
Gilbert: Nur dass ich weiterhin mit Liebe leben darf.
Frage: Zu Ihrem 80. Geburtstag waren Sie bei Papst Franziskus. Was hat er zu Ihnen gesagt?
Gilbert: Wir haben nicht viel miteinander gesprochen. Wir haben uns gesehen, geachtet, das genügte mir. Ich habe im ersten Stock des Gästehauses im Vatikan gewohnt und der Papst im zweiten Stock. Wir haben zusammen die Messe gefeiert und danach miteinander gegessen. Das war es schon. Das Wichtigste bei diesem Besuch für mich war, dass ich mit einem ganz normalen Menschen zusammen sein konnte, nichts weiter.
Frage: Sie haben wirklich nichts miteinander gesprochen?
Gilbert: Nichts Herausragendes zumindest. Darüber war ich selbst überrascht, es war mehr Allgemeines aus dem Leben eines Priesters worüber wir uns unterhalten haben, über meine 40 Bücher, über mein Wirken mit den Jugendlichen. Okay, der Papst hat mich dann gefragt, warum ich so eine Lederjacke trage.
Frage: Und was haben Sie ihm darauf geantwortet?
Gilbert: Ich habe nichts gesagt und der Papst hat geschmunzelt und nicht weiter danach gefragt. Ich vermute, er weiß, warum ich diese Jacke immer trage. Ich habe sooft in meinen Bücher darüber geschrieben warum ich diese Jacke trage und wie ich der sogenannte "Rockerpriester" wurde und warum ich mich um Jugendliche auf den Straßen von Paris und anderswo kümmere.
Frage: Ist der Papst ein Vorbild für Sie?
Gilbert: Ja, Papst Franziskus ist ein großes Vorbild für mich. Ich verehre ihn. Warum? Weil er der erste Papst ist, der die Bettler und Obdachlosen auf dem Petersplatz in Rom nicht nur segnet, sondern für sie Duschen und Toiletten aufgestellt hat. Vor ihm hat das noch kein Papst getan. Er setzt Zeichen für die Armen, und das bewundere ich an ihm. Er ist nicht nur einer, der über Barmherzigkeit und Liebe spricht, sondern er zeigt, wie man danach handelt.
Frage: Sie werden in Frankreich verehrt wie Mutter Theresa. Wie finden Sie das?
Gilbert: Das ist mir scheißegal. Das Wichtigste für mich sind meine Jugendlichen, um die wir uns hier im Heim in den Gorges du Verdon kümmern. Alles was wir ihnen an Liebe schenken, das hilft ihnen weiter.
Frage: Sie leben nach dem Motto "Meine Religion ist die Liebe". Was verstehen Sie darunter?
Gilbert: Die Liebe von Mensch zu Mensch ist sehr wichtig. Aber man muss auch immer mit Gottes Liebe rechnen. Zuerst aber muss ich mich lieben, dann kommen die anderen und ganz wichtig danach meine Feinde. Das ist gar nicht so einfach. Und dann sollen wir vor allem die lieben, die wir ausstoßen von unserer Gemeinschaft, diejenigen, die Probleme haben und die, die gehasst werden. Wenn wir unsere Feinde lieben, müssen wir ihnen auch das Böse verzeihen, das sie uns angetan haben.
Frage: Haben Sie Angst vor dem Bösen?
Gilbert: Ja, ich habe Angst vor dem Teufel, der in uns Menschen steckt. Ich war vor kurzem im Konzentrationslager in Dachau. Dort habe ich einen Überlebenden getroffen, der uns alles gezeigt hat. Das war einfach nur furchtbar. Dass so etwas Böses passieren konnte, geht nicht in meinen Kopf hinein. Ich glaube aber, dass das Böse nach wie vor in den Menschen steckt und das zu bekämpfen gelingt nur mit der Liebe. Und das ist hier auch mein Job.
Frage: Wie bringen Sie kriminellen Jugendlichen bei, dass die Welt auch gut sein kann?
Gilbert: Ich liebe diese Jugendlichen einfach, vor allem, weil sie sich nicht selbst lieben können. Als ich Kaplan war, habe ich einen Jugendlichen von der Straße bei mir aufgenommen. Nach und nach hat er seine Kumpels bei mir angeschleppt. So bin ich dann zum Rockerpriester geworden. Später dann bin ich mit dem Motorrad herumgefahren, um die Jugendlichen von der Straße zu holen. Heute haben wir einen Bauernhof außerhalb von Paris in Faucon mit 300 Tieren wie Kühen, Pferden, Kängurus, Wildschweine, Kamele, Lamas, und viele andere. Vormittags gehen die Jugendlichen in die Schule vom Heim und nachmittags betreuen sie die Tiere auf der Farm. Das funktioniert. Die jungen Leute, die die Menschen hassen, lassen sich auf die Tiere ein und finden so wieder den Weg zurück zu den Menschen. Ich kümmere mich um die ganz jungen Typen bei uns. Sie haben entweder gestohlen, jemanden vergewaltigt oder jemanden umgebracht. Das sind harte Fälle. Aber wir helfen ihnen hier auf dem Bauernhof Schritt für Schritt, dass sie es schaffen, wieder an sich zu glauben. Das Ziel ist, dass sie eines Tages wieder anderen Menschen vertrauen und sie lieben können. Ich sage ihnen jeden Tag: Seid Kämpfer für die Liebe!
Frage: Sie machen diese Aufgabe schon seit 53 Jahren, erfüllt Sie das?
Gilbert: Ja und zwar jeden Tag mehr und mehr. Heute finde ich es sogar noch wichtiger als vor 50 Jahren. Und ich finde, ich mache das heute auch viel besser als damals. Ich spüre das auch an den vielen Jugendlichen, die mir vertrauen. Es ist einfach eine große Verantwortung, die wir Erwachsene für junge Menschen haben.
Frage: Welche Rolle spielt der Glaube in Ihrer Arbeit?
Gilbert: Der Glaube ist in meinem Leben enorm wichtig. Ohne meinen Glauben würde ich hier gar nichts machen können. Jeden Abend halte ich auf unserem Bauernhof eine Andacht, keiner der Jugendlichen muss daran teilnehmen. Alle Angebote hier sind freiwillig. Wir haben viele Jugendliche mit anderen Religionen und Konfessionen wie Muslime, Orthodoxe und Protestanten. Mir ist wichtig, dass jeder seinen Glauben behält. Denn das, was zählt ist, dass wir uns gemeinsam zu Gott erheben. Gott schenkt uns die Würde, die wir verdienen. Alles andere zählt nicht.
Frage: Wollen Sie ein Vorbild für die jungen Leute sein?
Gilbert: Jeder Christ sollte ein Bild der Liebe für andere sein. Die jungen Leute wissen, dass ich Priester bin. Sie leben im Hass. Liebe kennen sie nicht. Die größte Sache, die ich leben kann, ist ihnen zu beweisen, dass es Liebe gibt. Ich gehe zu ihnen, denn sie sind die Ärmsten der Armen. Gott gibt mir die Kraft, zu ihnen zu gehen. Wenn ich Gott nicht hätte, hätte ich schon lange damit aufgehört.
Frage: Warum machen Sie das alles?
Gilbert: Ich hatte 14 Geschwister, stellen Sie sich das mal vor. Meine Eltern haben uns mit Liebe und Zärtlichkeit verwöhnt. Ich habe so viel Liebe bekommen und die will ich nicht behalten, sondern weitergeben. Ich muss sie an die vielen Jugendlichen hier weitergeben, denn sie brauchen sie am meisten.
Frage: Gab es auch Kritik an Ihnen und Ihrem ungewöhnlichem Auftreten als Priester mit langen Haaren, Ringen an den Fingern und einer schwarzen Lederjacke?
Gilbert: Ja, aber mir ist es ziemlich wurscht, was die Leute darüber denken oder reden. Christus hat auch keinen Talar getragen, sondern war normal angezogen. Ich ziehe die Lederjacke an, weil sie praktisch ist und die Leute mich so erkennen. Punkt.
Frage: Falls Sie mal heiliggesprochen werden, sind Sie dann der erste Heilige in Lederjacke …
Gilbert: Ja, vielleicht, aber auch das ist mir dann total egal.
Frage: Was ist Ihnen nicht egal?
Gilbert: Für mich ist das Wichtigste, dass ich Menschen lieben kann. Vor allem für heute. Morgen sehen wir dann weiter.