Man muss wissen, was man sagen kann
Schon wieder ein neues Interview mit dem Papst, der einmal gesagt hat, er spreche nur ungern mit Journalisten. Viereinhalb Jahre nach dem Amtsantritt von Franziskus scheint ein Gespräch mit Journalisten für Franziskus mittlerweile so selbstverständlich wie der Urbi-et-Orbi-Segen zu Ostern. Und dennoch stellt das Interview, das heute in Frankreich erschienen ist, eine Besonderheit dar: Das Buch mit dem Titel "Politik und Gesellschaft" enthält das mit Abstand ausführlichste Gespräch mit dem amtierenden Papst, das bislang veröffentlicht wurde. Sein Interviewpartner, der französische Soziologe Dominique Wolton sprach insgesamt zwölf Mal jeweils rund zwei Stunden mit Franziskus. Herausgekommen ist ein Interview in Roman-Länge, annähernd 300-DIN-A-5-Seiten.
Die Neuigkeit, die bereits seit Tagen das meiste Aufsehen erregt, hat allerdings wenig mit Politik und Gesellschaft zu tun: Franziskus verrät in dem Buch, dass er Ende der siebziger Jahre in einer Lebenskrise Rat bei einer jüdischen Psychoanalytikerin suchte. Im Alter von 42 habe er sich in Buenos Aires ein halbes Jahr lang einmal wöchentlich von ihr behandeln lassen, "um einige Dinge zu klären", berichtet er auf der vorletzten Seite des Interviews. Eine vage Umschreibung, die einige Medien zu Spekulationen ermunterte, ob vielleicht Schwierigkeiten mit dem Zölibat den Jesuiten auf die rote Couch getrieben hätten. Biographisch gesichert ist nur, dass Jorge Mario Bergoglio, 1979 nach sechs Jahren sein Amt als Oberer der argentinischen Jesuitenprovinz turnusgemäß abgab.
Grundlegend Neues findet sich nach Einschätzung von Beobachtern in dem Interview kaum. Fast alles hat Franziskus so oder ähnlich schon einmal gesagt. Das liegt zumindest bei den kirchlichen Themen zum Teil auch daran, dass der Agnostiker Wolton aus der Perspektive des distanzierten Betrachters fragt. Großen Raum nehmen die Krise Europas, der Umgang mit Flüchtlingen und der Dialog mit dem Islam ein, aber auch Persönliches wie das Verhältnis zu Frauen.
Franziskus bezeichnet es als Fehler, dass die Berufung auf die christlichen Wurzeln keinen Eingang in die europäische Verfassung gefunden hat, sagt aber zugleich, dass Europa auch andere Wurzeln habe. Zum Dialog mit dem Islam äußert der Papst, es wäre gut, wenn man eine historisch-kritische Interpretation des Korans in Angriff nehmen würde, wie sie für die Bibel angewendet werde.
Auch bei den kirchlichen Themen gibt es keine Überraschungen. Franziskus verteidigt den Zölibat: Es gebe zwar in den Ostkirchen auch verheiratete Priester, aber der Verzicht auf die Ehe um des Himmelreich s Willen sei ein "Wert an sich", betont er. Dieser Wert bestehe darin, zu verzichten, um für den Dienst bereit zu sein und um sich besser der Kontemplation widmen zu können. Der Papst bekräftigt zudem seine Ablehnung der Homo-Ehe. Die Ehe sei ein Bund zwischen Mann und Frau. "Wir können das nicht ändern. Das ist die Natur der Dinge." Ein Bund zwischen Personen gleichen Geschlechts sei etwas Anderes und sollte "eingetragene Partnerschaft" genannt werden. Außerdem bekräftigt der Papst die Null-Toleranz-Strategie gegenüber sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche.
Plant der Papst eine Friedensenzyklika?
Neu und bemerkenswert ist aus Sicht von Beobachtern hingegen Franziskus' Absage an die Lehre vom "gerechten Krieg": "Wir müssen das Konzept vom "gerechten Krieg" heute überdenken", so der Papst. "Kein Krieg ist gerecht. Das einzige, was gerecht ist, ist der Frieden". Bereits seit längerem wird spekuliert, dass der Vatikan sich möglicherweise von der im Katechismus festgeschriebenen Lehre verabschieden will, wonach ein Krieg unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt sein kann. Der Päpstliche Rat "Iustitia et Pax" und "Pax Christi" hatten im April 2016 im Vatikan eine Tagung zu diesem Thema veranstaltet. Die Teilnehmer appellierten in einer Erklärung an den Papst, er möge sich vom gerechten Krieg verabschieden und eine Friedensenzyklika schreiben. Könnten diese Äußerungen des Papstes darauf hindeuten, dass Franziskus tatsächlich eine Enzyklika über den Frieden plant?
Linktipp: Papst war bei Psychoanalytikerin
Vor seiner Wahl zum Papst erlebte Jorge Mario Bergoglio bedrückende Zeiten in seinem Leben. Nun verriet Franziskus, wie er durch diese Phase kam - und warum ihm Beziehungen zu Frauen wichtig waren.Große Beachtung in Interviews mit Franziskus finden traditionell die Aussagen, die er über seinen Vorgänger Benedikt XVI. macht. In dem neuen Interview-Buch lässt Franziskus keinen Zweifel daran, dass er vollständig hinter den auch innerkirchlich umstrittenen beiden Instruktionen der Glaubenskongregation zur Befreiungstheologie steht. Sie brachten deren einstigem Präfekten Joseph Ratzinger in den 1980er Jahren der Beinamen "Panzer-Kardinal" ein. Auch einem Schlüsselbegriff im theologischen Denken Benedikt XVI. schließt sich Franziskus vorbehaltlos an, der "Hermeneutik der Kontinuität". Damit wandte sich Benedikt XVI. gegen all jene, die das Zweite Vatikanische Konzil als Bruch mit der Tradition verstanden wissen wollten.
Auch Situationskomik fehlt nicht. Als es um die Krise Europas geht und das Fehlen großer europäischer Staatsmänner, sagt der Papst zunächst Merkel sei "unbestreitbar eine große europäische Führungspersönlichkeit". Dann wendet er sich unvermittelt an seinen Gesprächspartner: "Haben Sie mit Tsipras gesprochen?". Wolton verneint. Der griechische Ministerpräsident, erklärt der Papst daraufhin, sei zwar während seines Besuchs auf der Insel Lesbos zunächst sehr zurückhaltend gewesen. Als er dann aber zwölf muslimische Flüchtlinge in seinem Flugzeug mitgenommen habe, habe Tsipras etwas sehr Mutiges gesagt: Die Menschenrechte gingen über alle Vereinbarungen.
Franziskus hat keine Freundschaften zu Frauen
Im letzten Teil des Interview-Buch geht es schließlich um Privates. Vor allem zum Thema Frauen erfährt der Leser Einiges. Dass die Großmütter des Papstes für ihn eine prägende Rolle spielten, war bekannt. Dass die Frau, die ihn am meisten in seinem Leben beeindruckt hat, ausgerechnet eine Kommunistin war, weniger: Esther Ballestrino (1918-1977), die in Buenos Aires in einem Lebensmittellabor zeitweilig die Vorgesetzte Bergoglios war. Ballestrino habe ihn gelehrt, "über die politische Realität nachzudenken". Ob es ihm auch heute, trotz seines Amtes, noch gelinge freundschaftliche Beziehungen zu Frauen zu unterhalten, will der Interviewer dann vom Papst wissen. Franziskus' Antwort "Nein, wirklich freundschaftlich würde ich nicht sagen, aber gute Beziehungen, ja".
Schließlich stellt Wolton gegen Ende des Interviews eine Frage, die nicht nur Kritikern des Papstes beim Lesen dieses Interviews kommen könnte: Ob es nicht riskant sei, als Papst jenseits von offiziellen Anlässen so viel zu reden. "Ich glaube, dass Vorsicht geboten ist", antwortet Franziskus. Man müsse wissen, wo man was sagen könne und wie weit man gehen dürfe. Zwei, drei Mal habe er da während der Pressekonferenzen im Flugzeug Fehler gemacht, gesteht der Papst ein. Welche, sagt er nicht.