"Lampedusa-Kardinal" Montenegro im katholisch.de-Interview

"Wenn ein Flüchtling stirbt, stirbt Christus"

Veröffentlicht am 11.09.2017 um 15:20 Uhr – Lesedauer: 
Flüchtlinge

Catania ‐ Kardinal Francesco Montenegro ist als Erzischof zuständig für die Flüchtlingsinsel Lampedusa. Im Interview spricht er über die europäische Flüchtlingspolitik und fehlendes Engagement der Weltkirche.

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Die Situation für afrikanische Flüchtlinge verschärft sich. Immer weniger von ihnen gelingt die Reise über das Mittelmeer. Für Kardinal Francesco Montenegro, zu dessen Erzdiözese Agrigent die Insel Lampedusa gehört, ist die aktuelle Flüchtlingspolitik Europas keine Lösung des Problems. Im Interview mit katholisch.de nimmt er aber auch die Kirche und jeden einzelnen Christen in die Pflicht.

Frage: Herr Kardinal, Sie haben ein Brustkreuz und einen Bischofsstab aus Holz statt wie viele Ihrer Amtsbrüder aus Gold oder Silber. Warum?

Montenegro: Für mich ist das Material einfach nicht entscheidend. Die Bedeutung des Kreuzes bleibt ja die gleiche. Das Brustkreuz trage ich bereits seit mehr als zehn Jahren. Mein Bischofsstab ist noch etwas jünger. Er ist aus dem Holz eines Bootes gemacht, mit dem Flüchtlinge Lampedusa erreicht haben.

Frage: In den vergangenen Jahren hat man viel von Lampedusa gehört. Mittlerweile ist es allerdings etwas ruhiger geworden….

Montenegro: Das stimmt. Es kommen weniger Migranten direkt am Strand von Lampedusa an. Das liegt daran, dass die Boote mittlerweile auf dem offenen Meer gestoppt und die Menschen an Bord direkt in die Hotspots nach Sizilien gebracht werden.

Frage: Aber auch auf Sizilien kommen seit Juli viel weniger Flüchtlinge an. Macht Europa faktisch die Grenzen dicht?

Montenegro: Ja, wir haben vorerst den Stöpsel in das Mittelmeer gesteckt. Die Route von Libyen nach Italien wurde mehr oder weniger gekappt, in dem etwa durch einen "Verhaltenskodex" die Arbeit der NGOs erschwert wurde. Außerdem hält Libyen die Flüchtlinge im Land fest oder fängt sie auf offener See ab. Allerdings lassen sich die Migrationsströme dadurch nicht auf Dauer unterbrechen. Sie werden sich nur verlagern. Man beobachtet schon jetzt einen Anstieg der Zahlen auf der Route von Algerien nach Spanien.

Ein Geistlicher und ein Flüchtling stehen zusammen in einer Kirche am Altar.
Bild: ©DBK/Joern Neumann

Der Flüchtlingsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Stefan Heße (links) und Kardinal Francesco Montenegro (mitte) feieren einen Gottesdienst bei den Salesianern Don Boscos im sizilianischen San Gregorio. Der Orden kümmert sich hier um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Frage: Libyen handelt mit europäischer Unterstützung. Die EU und Italien bilden etwa die libysche Küstenwache aus. Darf man mit einem Land kooperieren, in dem es so viele Menschenrechtsverletzungen gibt?

Montenegro: Europa muss im Umgang mit Libyen sehr aufpassen. Das Problem ist aber, dass Europa selbst nicht gerade Klarheit und Einheit in der Flüchtlingsfrage an den Tag legt. Einige wenige Staaten haben wirklich eine Art Gemeinschaft geschaffen, die helfen will, andere legen eher Egoismen an den Tag. Mein Eindruck ist, dass ein Großteil Europas die Flüchtlinge loswerden möchte. Es ist den Ländern egal, was mit diesen Menschen passiert, die ja nur leben wollen.

Frage: Papst Franziskus findet in der Flüchtlingsfrage klare Worte. Würden Sie sich von Ihren Amtsbrüdern in Europa manchmal ähnlich deutliche Worte wünschen?

Montenegro: Die Kirche kann in dieser Situation sicher noch viel mehr tun und sich klarer positionieren. Wir müssen unser Handeln nach dem Evangelium ausrichten. Das Evangelium überlässt mir nicht die Wahl, mich um die Migranten zu kümmern oder nicht. Es sagt, dass ich ihnen helfen muss. Für mich als Christ sind die Flüchtlinge ein Bild Christi. Einen Flüchtling sterben zu lassen, bedeutet Christus sterben zu lassen. Diese Menschen haben Rechte, die anerkannt werden müssen. Wichtig ist dabei, dass wir nicht so sehr als einzelne Ortskirchen sprechen, sondern dass wir uns besser vernetzen und gemeinsam die Stimme erheben.

Frage: Franziskus hat seine erste Reise als Papst nach Lampedusa gemacht. Zwei Jahre später wurden Sie zum Kardinal. Haben Sie mit dem Papst über die Flüchtlingsproblematik gesprochen?

Montenegro: Ja, wir haben darüber gesprochen. Der Papst hat mir gesagt, ich solle mich weiter dafür einsetzen, die Rechte dieser Menschen zu verteidigen. Denn das Christentum zeige sich bei der Aufnahme der Flüchtlinge.

Frage: In vielen europäischen Ländern stehen bald Wahlen an. Was sagen Sie den Menschen da draußen mit Blick auf die Flüchtlingspolitik?

Montenegro: Die Politiker handeln immer danach, wie sie mehr Stimmen bekommen. Der Gläubige muss allerdings nach dem Herzen handeln. Es ist die Christenpflicht, jeden Menschen wie einen Bruder zu behandeln. Und falls die Christen das vergessen, ist es meine Pflicht, sie daran zu erinnern.

Von Björn Odendahl

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