Reform, Rebellion oder Selbstüberschätzung?
Es war der Versuch eines kirchen- und machtpolitischen Befreiungsschlags in höchster Not. Die beim Konstanzer Konzil versammelten Theologen, Fürsten und Kardinäle wagten vor genau 600 Jahren das bis dahin Undenkbare: Mit den nach hitzigen Diskussionen verabschiedeten Konzilsbeschlüssen "Haec sancta" und "Frequens" erklärte sich die Kirchenversammlung selbst zur höchsten Autorität der Kirche, der sich ausnahmslos jeder beugen müsse - auch der Papst.
Papst an der Leine?
Darüber hinaus sollte das am 9. Oktober 1417, also vor genau 600 Jahren, beschlossene Konzilsdekret "Frequens" ("Regelmäßig") alle künftigen Päpste dazu verpflichten, spätestens alle zehn Jahre ein Konzil einzuberufen, um mit der dort versammelten Kirchenführung Reformfragen und theologische Leitlinien zu besprechen und gemeinsam zu entscheiden. Der Papst sollte an die Leine genommen werden.
Ein Plan allerdings, der im Kampf mit späteren mächtigen Päpsten rasch ins Leere lief. Nicht zuletzt die 100 Jahre später mit Martin Luthers Kritik an Ämtermissbrauch und Ablasshandel beginnende Reformation und die folgende katholische Gegenreform führten zur Stärkung der Papstkirche. Es blieb für lange Zeit kaum Raum für konziliare Ideen und Kirchenversammlungen, die Päpste und Kurie in die Schranken hätten weisen können.
Bis heute umstritten ist unter Kirchenhistorikern, ob das Konzil am Bodensee "nur" in Reaktion auf die damalige Kirchenspaltung mit zeitweise drei gegeneinander kämpfenden Päpsten und deren weltlichen Unterstützern in einer Art Notstandsgesetzgebung handelte. Oder ob die Kirchenversammlung grundsätzliche und auch auf lange Sicht verbindliche Strukturen schaffen wollte.
Historiker wie der deutsche Kardinal Walter Brandmüller versuchen die Beschlüsse als einmaligen Spezialfall des 15. Jahrhunderts zur Überwindung des Schismas einzuordnen. Das Dekret "Haec sancta", so Brandmüller, stelle keineswegs einen Traditionsbruch in der streng auf den Papst zulaufenden hierarchischen Struktur der Kirche dar. Liberale Kirchenhistoriker oder auch der Tübinger Theologe Hans Küng sehen dies anders und werten die Dokumente sehr wohl als gültige Grundsatzbeschlüsse eines Vorrangs des Konzils über den Papst. Und fordern, daran heute neu anzuknüpfen.
Mancher sieht sogar in den von Papst Franziskus angestoßenen Reformen und neuen Dialogformen einen zumindest indirekten Bezug auf die konziliare Bewegung des 15. Jahrhunderts. Hinweise auf ein neues Konzil indes gibt es keine.
Beim Jubiläumsprogramms zum Konstanzer Konzil, das seit 2014 in der Bodenseeregion mit großem Aufwand organisiert wird, spielen die Auseinandersetzung mit den theologischen und rechtlichen Beschlüsse der Kirchenversammlung eher eine untergeordnete Rolle. Auf der Zielgerade des bis Sommer 2018 dauernden Konzilsprogramms rückt dafür nun das zentrale Ereignis des Konzils in den Blick: der 600. Jahrestag der Wahl von Papst Martin V., mit dem die Konzilsväter das Schisma und die europäische Spaltung beendeten. Die Kraft für weitere Reformen und ein Durchsetzen der Bestimmungen von "Frequens" für regelmäßig tagende Konzilien aber hatten die Kirchenführer des 15. und 16. Jahrhunderts nicht mehr.