Pater Klaus Mertes über "Auge um Auge"

Den christlichen Antijudaismus überwinden

Veröffentlicht am 16.10.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Standpunkt

Bonn ‐ Pater Klaus Mertes über Versöhnung und Schadenersatz

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Vor kurzem diskutierte ich mit einem Vertreter des humanistischen Verbandes über das Verhältnis von Religion und Gewalt. Seine These lautete: Je weniger Religion, umso weniger Gewalt – und dies gälte besonders für die monotheistischen Religionen mit ihrem schrecklichen Rache-Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn."

Wenn Leute, die mit oberflächlichem Wissen und negativen Vorurteilen an die biblischen Texte herangehen, so einen Unsinn reden, schüttele ich bloß den Kopf. Aber es passiert auch in kirchlichen Kreisen: Bei einem ansonsten von mir geschätzten, offiziell-kirchlichen Medium las ich neulich zur Einleitung des Sonntagsevangeliums: "Im Alten Testament hieß es: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Jesus aber fordert völligen Verzicht auf Vergeltung und Rache und darüber hinaus aufrichtiges Verzeihen, nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzig Mal."

Das ist eine Verunglimpfung des sogenannten Talionsprinzips. "Auge und Auge, Zahn um Zahn" ist kein Racheprinzip. Sämtliche seriöse Bibelexegese weiß inzwischen, dass das Gegenteil stimmt: Das Prinzip richtet sich an den Täter: "Du sollst geben ..." (Ex 21,23) – und verpflichtet ihn zu angemessenem Schadensersatz. Es richtet sich nicht an das Opfer, um ihm das Recht zu geben, sich den Schadenersatz zu "nehmen".

Wenn Jesus das Thema in der Bergpredigt aufgreift, dann nicht, um dieses Prinzip von Schadensersatz und Ausgleich außer Kraft zu setzen, sondern um es vor Missbrauch durch diejenigen zu schützen, die meinen, sich Auge für Auge "nehmen" zu können, weil sie Geschädigte sind. Jesu Beispiele verdeutlichen diesen Wechsel von der Täter- zur Opferperspektive: "Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt ... Wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen ...". Er geht dann noch einen Schritt weiter: " ... halte ihm auch die andere Wange hin ... gehe zwei Meilen mit ihm". Aber das tut Jesus nicht auf Kosten des Talionsprinzips. Schadensersatz ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Versöhnung.

Wir Christen brauchen nicht vor schwarzem Hintergrund zu malen, um das Evangelium hell erstrahlen zu lassen. Von jüdischer Seite her wird die Verunglimpfung des Talionsprinzips als typischer christlicher Antijudaismus gesehen – verständlicherweise. Und damit machen wir uns auch noch nebenbei gemein mit anti-religiöser und anti-monotheistischer Propaganda von Atheismus-Verbänden. Erst wenn wir Christen mit anti-jüdischen (und übrigens auch anti-muslimischen) Klischees bei uns aufräumen, können wir mit atheistischen Religionskritikern in einen konstruktiven Dialog über Religion und Gewalt einsteigen.

Von Pater Klaus Mertes

Der Autor

Der Jesuit Klaus Mertes ist Direktor des katholischen Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.