Der Grundstein für den heutigen Gottesdienst
Volkssprache, liturgische Laiendienste, Zelebrationsrichtung "hin zum Volk": All diese Dinge gehören heute selbstverständlich zum Gottesdienst dazu. Sie sind Früchte des Zweiten Vatikanischen Konzils und der von ihm angestoßenen Liturgiereform. Doch eine Reform kommt nicht von jetzt auf gleich, jede Erneuerung bedarf einer Entwicklungszeit. In dieser Phase sticht die Enzyklika Mediator Dei heraus, die Papst Pius XII. am 20. November 1947 veröffentlichte. "Die Enzyklika ist ein Wendepunkt in der Beurteilung dessen, was kirchlicherseits unter Liturgie zu verstehen ist", sagt der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards. "Sie muss als die entscheidende Vorstufe der Liturgiereform betrachtet werden." Der Vorsitzende der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, hat Mediator Dei gegenüber katholisch.de als "Meilenstein auf dem Weg der liturgischen Erneuerung der Kirche" bezeichnet.
Um die Beweggründe Pius' XII. für die Enzyklika zu verstehen, muss der Blick drei Jahrzehnte zurückgehen: Als der Benediktiner Lambert Beauduin 1909 auf dem belgischen Katholikentag in Mechelen eine "Demokratisierung" der Liturgie forderte, galt das als Initialzündung der sogenannten Liturgischen Bewegung. Ihr Ziel: eine Erneuerung der kirchlichen Liturgie und eine Vertiefung des liturgischen Verständnisses unter den Gläubigen. Zu jener Zeit wurden Gottesdienste noch immer nach der jahrhundertealten "Tridentinischen Liturgie" gefeiert – also nach den liturgischen Büchern, die vom Konzil von Trient (1545 bis 1563) in Auftrag gegeben worden waren. Charakteristisch dafür: Priesterzentriertheit, lateinische Sprache, die Laien ohne wirkliche Beteiligung am liturgischen Geschehen.
"Die Liturgische Bewegung betonte demgegenüber, dass Kirche die Gemeinschaft aller Gläubigen ist, und diese Gemeinschaft sollte auch in der Liturgie zum Ausdruck kommen", so Gerhards. Überall entstanden Zentren der Bewegung – etwa die Abtei Maria Laach, das Stift Klosterneuburg oder das katholische Bildungshaus Burg Rothenfels, das der Theologe Romano Guardini leitete. An diesen Zentren wurde ab den 1920er-Jahren mit liturgischen Neuerungen experimentiert. Unter anderem feierte man sogenannte "Gemeinschaftsmessen", in denen Teile der Liturgie vom Volk in deutscher Sprache gesungen wurden. Gerade in der katholischen Jugendbewegung und durch sie fanden die Ideen der Liturgischen Bewegung rasch Verbreitung. Über die Experimentierfreudigkeit entbrannte in der Folge ein heftiger Streit zwischen Bewahrern und Reformern: Durfte die bestehende Liturgie eigenmächtig abgeändert werden?
Der Papst greift ein
In diese Auseinandersetzung nun griff Pius XII. ein. Ein wichtiger Schritt mit Blick auf Mediator Dei war die Veröffentlichung der Enzyklika Mystici Corporis im Jahr 1943. "Pius hat hier eine sehr starke Korrektur des Kirchenbildes vorgenommen", sagt Gerhards. Die Kirche wurde nicht mehr vorrangig als "societas perfecta", als perfekte Gesellschaft in straffer hierarchischer Ordnung gesehen. Vielmehr nahm Pius XII. den paulinischen Gedanken auf, dass die Kirche ein lebendiger Leib mit vielen Gliedern in unterschiedlichen Funktionen ist. Der Gemeinschaftsaspekt aller wird deutlich hervorgehoben. Neue Entwicklungen in der Kirche sollen nicht pauschal verdammt, sondern das Gute in ihnen anerkannt werden. Dieses Kirchenbild übertrug der Papst in Mediator Dei vier Jahre später auf die Liturgie.
Der Begriff "Mediator Dei" (Mittler Gottes) ist dem 1. Timotheus-Brief entnommen: Jesus als der Gottmensch wird dort als Mittler zwischen Gott und den Menschen bezeichnet. "Durch Christus werden wir als Gläubige gleichsam auf Augenhöhe mit Gott gehoben", so Gerhards. "Das bedeutet, dass wir mit ihm auf Du und Du stehen und Liturgie als ein dialogisches Geschehen aller Gläubigen mit Gott verstanden werden muss." Die Liturgie wird in der Enzyklika entsprechend nicht mehr rein als das kultische Geschehen verstanden, der zu verrichtende Dienst an Gott, den allein der Priester leisten kann. Vielmehr werden alle Gläubigen als wirklich Mitfeiernde respektive "Mitopfernde" anerkannt. In diesem Zusammenhang gebraucht Pius den Begriff der "tätigen Teilnahme" der Gläubigen (participatio actuosa). Dieses Wort hatte bereits Papst Pius X. (1903 bis 1914) verwendet, und es wurde später zum Grundprinzip der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium des Zweiten Vatikanums.
Ein weiteres großes Novum der Enzyklika: Pius konstatiert, dass die Verwendung der Landessprache in manchen kirchlichen Zeremonien "dem Volke sehr nützlich sein" kann (MD 60). "Damals wurden auch die Sakramente in lateinischer Sprache gespendet, was bedeutet, dass die Menschen etwa beim Taufritus im ihnen unverständlichen Latein angesprochen wurden", so Gerhards. Pius machte nun den Weg frei – wohlgemerkt noch nicht für den Messritus –, dass liturgisch die Volkssprache zum Einsatz kommen konnte. Erste Rituale-Bücher in den Landessprachen erschienen bereits Anfang der 1950er-Jahre.
Des Weiteren wendet sich der Papst gegen das, was er als "Liturgischen Archäologismus" bezeichnet: Zwar sei die Liturgie der alten Zeit verehrungswürdig. Doch nur weil sie alt sei, heiße das nicht, dass sie "für spätere Zeiten und neue Verhältnisse als geeigneter und besser zu betrachten" sei (MD 61). Ausdrücklich betont er die Möglichkeit neuer liturgischer Riten. "Damit brach Pius die seit dem Tridentinum starrgewordene Liturgie auf und erklärte sie für revidierbar", betont Gerhards.
Mittelposition eingenommen
Gleichwohl kam Pius XII. mit Mediator Dei nicht allein den Forderungen der Liturgischen Bewegung nach. "Er nahm hier vielmehr eine Mittelstellung zwischen Bewahrern und Reformern ein", sagt Gerhards. Der Papst erkannte zwar grundsätzlich an, dass der Wunsch nach Reformen berechtigt sei. Gleichzeitig wendet er sich aber auch ausdrücklich gegen Irrtümer und Eigenmächtigkeiten der liturgischen Erneuerer. Das Recht, "gottesdienstliche Praxis anzuerkennen oder festzulegen, neue Riten einzuführen und gutzuheißen" obliege allein dem Heiligen Stuhl (MD 58). "Pius XII. hat mit der Enzyklika selbst also noch keine Liturgiereform durchgesetzt", so Gerhards. "Er bringt aber den Stein ins Rollen und betont, dass Liturgie offen für Neuerungen ist." Laut Bischof Ackermann hat Mediator Dei "die Erkenntnis aufgegriffen, dass die Kirche ein lebendiger Organismus ist, der sich beständig erneuert und auch nach neuen Formen sucht." Entsprechend wachse und entfalte sich auch die Liturgie als etwas Lebendiges. "Das galt damals und gilt auch heute."
Die Liturgie war somit fortan nicht mehr in Stein gemeißelt, sondern man durfte sich mit ihr auseinandersetzen. Noch im Erscheinungsjahr der Enzyklika wurde etwa in Trier das Deutsche Liturgische Institut (DLI) als liturgiewissenschaftliche und -pastorale Einrichtung der Bischofskonferenz gegründet. Die Gründung eines solchen Instituts hätten die Vertreter der Liturgischen Bewegung schon zuvor im Sinn gehabt, sagt der Leiter des DLI, Marius Linnenborn. Ziel sollte vordergründig die Förderung der pastoralliturgischen Arbeit in den Pfarreien durch Veröffentlichungen, Schulungskurse und Tagungen sein. Die Enzyklika sei dann als "päpstliche Ermutigung und Bestätigung ihrer Anliegen" verstanden worden, um letztlich diesen Gedanken konkret umzusetzen, so Linnenborn. Ab dem Jahr 1948 bis zum Beginn des Zweiten Vatikanums 1962 fanden verschiedene internationale Liturgie-Kongresse statt. Dort wurde gewissermaßen das ganze Programm der liturgischen Erneuerung, die später vom Konzil auf den Weg gebracht wurde, schon einmal durchgespielt.
Bleibende Relevanz
Doch auch Pius XII. blieb in der Folge seiner Enzyklika nicht untätig. Er setzte eine vatikanische Liturgiekommission ein, die sich der Reform der Karwochenliturgie annahm. In den Jahren 1951 und 1956 erneuerte der Papst die Feiern an Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag und in der Osternacht grundlegend. Zudem ließ er den Psalter neu übersetzen und sorgte für Veränderungen im Brevier. "Das waren alles Maßnahmen, die Liturgie der Kirche – die freilich in ihrer Identität beibehalten werden sollte – den Bedürfnissen der Gläubigen in ihrer Zeit anzupassen", so Gerhards. Pius sei also kein "Bremser" gewesen, wie ihn viele heute sehen, sondern ein Wegbereiter.
Durch die zahlreichen Vorarbeiten, die durch Mediator Dei möglich geworden waren, konnte das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) seine Liturgiekonstitution als erstes Dokument überhaupt erlassen. "Sacrosanctum Concilium greift in weiten Teilen das Kirchenbild, Liturgieverständnis und das theologische Fundament von Mediator Dei auf", sagt Gerhards. Das Konzil ging nun allerdings noch einige Schritte weiter und setzte die zahlreichen Denkanstöße aus der Enzyklika konsequent um. Die nachkonziliare Liturgiereform brachte eine vollständig erneuerte Messliturgie, die Mitwirkung der Gläubigen auch durch liturgische Laiendienste sowie eine breite Einführung der Muttersprachen in den Gottesdienst. "Die liturgiewissenschaftliche Bedeutung von Mediator Dei ist immens", resümiert Gerhards. "Daher ist die Enzyklika heute zu Unrecht weitestgehend in Vergessenheit geraten."
Würdigung von Bischof Ackermann
Zur Veröffentlichung der Enzyklika Mediator Dei vor 70 Jahren hat Bischof Stephan Ackermann, Vorsitzender der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), gegenüber katholisch.de folgendes Statement abgegeben:
"Die Enzyklika Mediator Dei von Papst Pius XII. war ein Meilenstein auf dem Weg der liturgischen Erneuerung der Kirche. Sie war vorbereitet durch die Liturgische Bewegung, die vor allem auch in Deutschland stark war. Wesentliche Gesichtspunkte, die dann später in der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert worden sind, werden hier schon zur Sprache gebracht: die tätige Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie, die Verwendung der Muttersprache oder die Kommunion der Gläubigen während der Messe. Mediator Dei hat die Erkenntnis aufgegriffen, dass die Kirche ein lebendiger Organismus ist, der sich beständig erneuert und auch nach neuen Formen sucht. So ist auch die Liturgie etwas Lebendiges, das weiter wächst und sich entfaltet. Das galt damals und das gilt auch heute. Das zeigen die jüngsten liturgierechtlichen Regelungen, die Papst Franziskus getroffen hat. Anders als noch Mediator Dei das formuliert, überträgt er liturgische Zuständigkeiten an die nationalen Bischofskonferenzen, um den unterschiedlichen Situationen der Ortskirchen besser gerecht werden zu können."