Der Super-Papst
Fünf Jahre ist es nun her, dass ein schüchtern wirkender Mann in Weiß auf dem Balkon des Petersdoms trat und sagte, die Kardinäle seien "fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen". Der erste lateinamerikanische Papst der Geschichte war, wie wir heute wissen, im Konklave gewählt worden, weil er Neuerungen in Aussicht gestellt hatte. In einer Ansprache vor den Kardinälen kurz vor seiner Wahl am 13. März 2013 hatte Jorge Mario Bergoglio eine Kirche gefordert, die sich von ihrer "zwanghaften Nabelschau" löst und wieder zum Abbild Christi wird. Seine Rede endete mit dem Satz: "Dies muss die möglichen Veränderungen und Reformen erleuchten, die zur Rettung der Seelen notwendig sind".
Ein Papst zwischen Hoffnungen und Häresie-Vorwürfen
Franziskus hat in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, so große Hoffnungen auf innerkirchliche Reformen geweckt wie wohl kein Papst mehr seit Paul VI. Zugleich hat er die Katholiken stark polarisiert; innerkirchliche Kritik am Papst war nie so laut wie unter Franziskus. Für seine Bewunderer ist er der Super-Papst, für seine Kritiker steht er unter Häresie-Verdacht. Woran liegt das? Was hat sich seit jenem 13. März 2013 in der katholischen Kirche verändert?
Auf die prägnanteste Formel brachte es wohl Chicagos Kardinal Blaise Cupich: Johannes Paul II. habe den Katholiken gesagt, was richtig und was falsch sei, Benedikt XVI. habe erklärt, warum etwas richtig oder falsch ist, und Franziskus sage nun schlichtweg "Macht es!"
Bei aller Vereinfachung steckt in diesem Ausspruch viel Wahres über Franziskus und seine bisherige Amtszeit. Dieser Papst ist nicht angetreten, um die kirchliche Lehre von Grund auf zu ändern, wohl aber um ihre aus seiner Sicht mitunter allzu schematische Anwendung zu beenden.
Unter Franziskus hat daher weniger eine inhaltliche Neuausrichtung der katholischen Kirche stattgefunden, als ein Perspektivwechsel. Kennzeichnend für ihn ist der konsequent seelsorgerische Ansatz. Franziskus fordert eine realistischere Sicht auf die Wirklichkeit der Gläubigen, vor allem mit Blick Ehe und Familie will er mehr Barmherzigkeit im Umgang mit all jenen, die an den kirchlichen Normen scheitern. Entscheidend ist für diesen Papst, dass in der Kirche Bewegung und Dynamik herrscht, dass der Glaube verkündet wird, Moralvorschriften sind dabei nicht nebensächlich oder überflüssig, aber im Zweifelsfall zweitrangig. Seine Aussage vor südamerikanischen Ordensleuten, wenn man von der Glaubenskongregation wegen experimenteller Seelsorgemethoden einen ermahnenden Brief erhalte, solle man höflich antworten und weitermachen wie bisher, spiegelt diese Haltung exemplarisch wieder.
Franziskus ist ganz und gar ein Papst der Tat. "Haut rein!" rief er argentinischen Jugendlichen während des Weltjugendtags in Rio de Janeiro 2013 zu. Doch das könnte ohne weiteres auch das Motto seines gesamten bisherigen Pontifikats sein.
Nimmt man jedoch allein Franziskus einzelne Reformprojekte in den vergangenen fünf Jahren, erscheint der Titel "Reformpapst" kaum angemessen. Es gab rund ein Dutzend Neuerungen, die bislang für den durchschnittlichen Katholiken in Deutschland allerdings oft kaum zu spüren sind oder nur symbolischen Charakter haben. So vereinfachte Franziskus die Ehenichtigkeitsverfahren, senkte die Kosten für Heiligsprechungen, ließ Frauen zur Fußwaschung am Gründonnerstag zu und stärkte die Kompetenzen der Bischofskonferenzen bei der Übersetzung liturgischer Texte in die Landessprachen.
Ganz in der Tradition des Ordensgründers
Franziskus' eigentliche Reform lässt sich hingegen nicht an konkreten Projekten festmachen, sie hat grundsätzlicheren Charakter. Ihr Schlüssel ist das das Prinzip der "Unterscheidung der Geister". Das heißt: Man darf nicht mehr alles über einen Kamm scheren; über die Anwendung einer kirchlichen Norm muss immer unter Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls entschieden werden. Franziskus hat dieses Prinzip seines Ordensgründers Ignatius von Loyola in seinem Schreiben "Amoris laetitia" zum Leitgedanken erhoben. So ermöglichte er wiederverheirateten Geschiedenen im Einzelfall den Kommunionempfang, der ihnen bislang verwehrt war, sofern sie nicht keusch in ihrer zweiten Verbindung lebten. Bei zahlreichen Gelegenheiten schärft er vor allem Geistlichen die "Unterscheidung der Geister" immer wieder ein. Damit bekommt der einzelne Priester von Franziskus eine enorme Verantwortung übertragen, er muss den jeweiligen Einzelfall beurteilen.
Franziskus' Kritiker sehen in dieser Nichtanwendung kirchlicher Normen im Einzelfall eine Aushöhlung der Lehre. Vor allem deshalb stößt sein Schreiben "Amoris laetitia" auf Widerstand. Die "Unterscheidung der Geister" könnte nach Einschätzung von Beobachtern im nächsten Jahr möglicherweise noch für viel stärkeren kirchenpolitischen Sprengstoff sorgen: Franziskus könnte in Amazonien "viri probati", also verheiratete Priester, zur Priesterweihe zulassen, so die Vermutung. Nicht, weil der Papst verheiratete Priester an sich für eine gute Sache hielte, sondern eben mit Blick auf den konkreten Einzelfall: weil er in einigen Gegenden Amazoniens keinen anderen Weg sieht, dem seelsorgerischen Notstand abzuhelfen.
Geht die Einzelfallprüfung Franziskus konservativen Kritiker schon zu weit, ist sie manchem reformorientierten Katholiken nicht genug. Denn Franziskus zielt eben nicht auf eine grundlegende Neuformulierung des Priesterbildes oder der kirchlichen Sexualmoral, die sich manche von ihnen erhofft hatten. Im progressiven Lager macht sich teils bereits Ungeduld oder Enttäuschung breit.
Ein ganz offensichtlicher Wandel, der unter Franziskus stattgefunden hat, ist jedoch, dass in der katholischen Kirche wieder öffentlich auch über heikle Themen debattiert wird. Gewiss auch unter Johannes Paul II und Benedikt XVI. gab es bisweilen Ansätze zu Debatten. Doch die wurden mit einem Machtwort aus Rom zumeist im Keim erstickt oder zumindest sehr schnell wieder beendet Franziskus hingegen will die freimütige Diskussion. So erlebte die Welt zwei Bischofssynoden über Ehe und Familie im Vatikan, deren Teilnehmer öffentlich um den richtigen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen rangen und bekam am Ende sogar das Abstimmungsergebnis auf die Stimme genau mitgeteilt. So etwas hatte es bei derartigen Synoden vorher nicht gegeben.
Auch in den Ortskirchen macht sich diese neue Freiheit mittlerweile bemerkbar. Beobachter weisen etwa darauf hin, dass ein Vorschlag zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, wie in Osnabrücks Bischof Franz-Josef Bode jüngst vortrug, so unter Benedikt XVI. nur sehr schwer vorstellbar gewesen wäre.
Angesichts des Reformationsjahrs 2017 ruhten in Deutschland vor allem auch beim Thema Ökumene große Hoffnungen auf Franziskus unter Katholiken, aber auch unter Protestanten. Beflügelt wurden sie gleich zu Beginn des Pontifikats noch dadurch, dass der damalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider, der erste deutsche Gast überhaupt war, den Franziskus nach seiner Wahl empfing. Der Termin stammte wohl noch aus der Zeit seines Vorgängers, aber er hätte ihn auch absagen können, das tat er nicht. Diese Hoffnungen haben sich wohl nur zum Teil erfüllt. Denn Franziskus ging im Dialog mit den evangelischen Kirchen nicht substantiell über seinen Vorgänger Benedikt XVI. hinaus. Seine Ermutigung für verschiedenkonfessionelle Paare mit Blick auf einen etwaigen gemeinsamen Kommunionempfang ihr Gewissen zu befragen und mutig voranzuschreiten blieb eine persönliche Äußerung. Eine verbindliche Aussage wurde daraus nicht. Allerdings spricht vieles dafür, dass der jüngste Vorstoß einer Mehrheit der deutschen Bischöfe, evangelischen Partnern im Einzelfall den Empfang der Kommunion zu ermöglichen, in dieser Form vor Franziskus nicht möglich gewesen wäre.
Ist der "point of no return" erreicht?
Kein Papst in den vergangenen hundert Jahren sei auf so starken innerkirchlichen Widerstand gestoßen wie Franziskus, konstatierte der italienische Kirchenhistoriker Andrea Riccardi einmal. In der Tat gab es im 20. Jahrhunderts wohl nichts, was mit dem Brief der vier Kardinäle, die Zweifel an Franziskus' Treue zum Lehramt äußerten, und der "brüderlichen Zurechtweisung" zu vergleichen gewesen wäre, die konservative Kritiker des Papstes im vergangenen Jahr veröffentlichten. Man darf den Widerstand gegen Franziskus jedoch auch nicht überschätzen. Der enorme Resonanzboden des Internets und der sozialen Medien führt dazu, dass die Zahl der Kritiker mitunter überschätzt wird.
Franziskus selbst hat gesagt, er rechne damit, dass sein Pontifikat nicht allzu lange dauern werde. Was würde von seiner Amtszeit übrigbleiben, wenn sie heute nach fünf Jahren enden würde? Von Kardinal Walter Kasper stammt die sehr plausible Einschätzung, Franziskus sei ein Mann, dem es weniger darum gehe, konkrete Reformen abzuschließen, als vielmehr Prozesse in Gang zu setzen, die unumkehrbar sind. Die Frage ist, ob dieser "point of no return" nach fünf Jahren im Amt bereits erreicht ist, oder nicht. Kardinal Kasper selbst sagt ja.