"Die Fragen von Karl Marx bleiben aktuell"
Er heißt Marx, hat sich schon viel mit der Soziallehre befasst und selbst ein Buch mit dem Titel "Das Kapital" geschrieben. Außerdem war Kardinal Reinhard Marx Bischof von Trier, der Heimatstadt von Karl Marx, dessen Geburtstag sich am heutigen Samstag zum 200. Mal jährt. Gründe genug für ein Interview mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zu seinem Namensvetter:
Frage: Kardinal Marx, Sie haben sich immer wieder mit Ihrem Namensvetter beschäftigt. Warum befasst sich ein Erzbischof mit Karl Marx, der doch einer der schärfsten Kritiker der Kirche und der "Pfaffen" war?
Marx: Die Katholische Soziallehre hat sich intensiv an Marx abgearbeitet, daher das Wort von Oswald von Nell-Breuning: "Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx". Das soll nicht bedeuten, dass er ein "Kirchenvater" sei. Aber seine Position war immer ein Diskussionspunkt für die Katholische Soziallehre. Meistens in kritischer Absetzung, aber eben auch in der Fragestellung: Was meint er eigentlich, was treibt diesen Mann um? Ist seine Analyse des Kapitalismus richtig? Und was können wir dazu sagen?
Frage: Kann man Nachdenken über seine Theorien trennen von den Verbrechen, die in seinem Namen begangen wurden?
Marx: Man darf ihn nicht einfach freisprechen, von dem was an Folgen entstanden ist, er muss aber auch nicht für alles haften, was in der Folge seiner Theorie als Marxismus betrieben wurde, bis hin zu Stalins Gulags. Vielleicht ist nach dem Ende des realen Sozialismus in Europa eher ein unbefangenerer Blick auf seine Philosophie möglich. Er ist auf jeden Fall ein Denker, der unsere Epoche mit geprägt hat, auch eben negativ.
Marx: Ohne Karl Marx keine katholische Soziallehre
Am 5. Mai würde Karl Marx 200 Jahre alt. Aus diesem Anlass sprach Kardinal Reinhard Marx über seinen Namensvetter und würdigte ihn. Das Kommunistische Manifest habe ihn "durchaus beeindruckt", so Marx.Frage: Welche Thesen von Marx sind heute noch aktuell?
Marx: Er ist ein scharfsinniger Analytiker des Kapitalismus. Er hat das richtig erkannt: Wenn die Interessen der globalen Kapitalverwertung das alles bestimmende Element der Entwicklung sind, wird der Kapitalismus in unauflösbare Aporien hineinkommen. Mit meinen Worten: Wenn man den technologischen Imperativ – "was man technisch machen kann, das soll man auch tun" – mit dem ökonomischen Imperativ – "was Profite bringt, darf man nicht verhindern" – kombiniert und dann mit einer Moral des kleineren Übels verbindet, das führt in den Abgrund. Manches von dem, was er benannt hat, sehen wir erst heute in der ganzen Breite. Welche sozialen, politischen und ökologischen Auswirkungen ein weltweiter, globaler, ungebremster Kapitalismus hat, das beginnen wir zu begreifen. Und die Katholische Soziallehre hat ja die marxistische Analyse des Kapitalismus und der Gefährdungen, die daraus entstehen, nie bestritten. Nur hat sie auf eine Zähmung und eine Korrektur des Kapitalismus gesetzt. Wir sind bis heute davon überzeugt, dass die Kapitalverwertungsinteressen nicht der einzige Antrieb einer Gesellschaft sein dürfen und dass wir Rahmenbedingungen brauchen, um die Marktkräfte dem Menschen dienlich zu machen. Karl Marx hat Probleme ins Denken eingebracht, die nicht erledigt sind. Das gilt auch für den Fetisch-Charakter der Ware und die Entfremdung: Was passiert im Verhältnis von Menschen untereinander, wenn alles zur Ware wird? Wenn auch die Arbeit zur Ware wird, zum Gegenstand von Kaufen und Verkaufen? Das ist weiter aktuell!
Frage: Wieso ist eigentlich die Katholische Soziallehre so viel weniger bekannt als die Lehre von Karl Marx oder die seines liberalen Antipoden Adam Smith?
Marx: Ob Karl Marx und Adam Smith wirklich bekannt sind und gelesen werden, das wage ich zu bezweifeln. Marx hat zu seinen Lebzeiten kein System von Lehrsätzen gebaut. Das kam später, es wurde fast eine Staatsreligion daraus gemacht. Und natürlich wurde dadurch die Wirkmächtigkeit erheblich erhöht. Im Vergleich kommt die Katholische Soziallehre nicht so plakativ und laut daher. Und sie ist nicht so eng mit einer Person verbunden wie der Marxismus. Außerdem verlief ihre Entwicklung uneinheitlich. Es gab Sozialromantiker, die zurück wollten in eine Ständegesellschaft, die das Heil in der Vergangenheit suchten. Schließlich entwickelte sich eine Soziallehre, die weder Revolution nach Rückwärts noch eine Revolution nach Vorwärts suchte, sondern eine Gestaltung der Gesellschaft unter den gegebenen Bedingungen, mit Menschenrechten, mit sozialstaatlichen Rahmenbedingungen, mit Rechten für die Arbeiter und gerechten Löhnen. Das wirkt nicht so ansteckend, wie wenn man die Revolution ausruft, aber es war und ist erfolgreicher im Blick auf die Menschen. Denn der Einfluss der Katholischen Soziallehre und der Sozialbewegung im 19. Jahrhundert war groß und intensiv. Zwar dominiert in der Geschichtsschreibung oft der Blick auf die sozialistische Arbeiterbewegung, aber unter den ersten Arbeitervereinen waren katholische Vereine, inspiriert von Bischof von Ketteler; das wird oft vergessen. Bis ins Ende des 20. Jahrhunderts hinein hat diese Lehre einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Sozialstaates. Auch die Zentrumspartei und später die Christdemokraten hatten immer einen starken sozialpolitischen Flügel, der von der Katholischen Soziallehre geprägt war.
Frage: In diesem Mai wird nicht nur an 200 Jahre Karl Marx, sondern auch an die Studentenrevolte vor 50 Jahren erinnert. Für deren Akteure waren die Lehren von Marx fast wie eine Bibel. Wie kam es dazu?
Marx: Das frage ich manchmal auch. Aber wenn man einmal anfängt, seine Schriften zu lesen, dann kann das schnell faszinieren. Er war auch Journalist, er konnte pointiert formulieren. Das Kommunistische Manifest hat einen Schwung, der ist auch gut hundert Jahre später noch spürbar, bei denen, die 1968 sagten: Wer herrscht in diesem Land? Wo ist das revolutionäre Subjekt? Wie kann die große Umwälzung passieren? Das Kapital herrscht – so war die Meinung, also: der Marx, der damals schon dagegen war, gibt uns Antworten für die Gegenwart. Das war natürlich zu kurz gedacht. Aber es war eine Inspiration da, der revolutionäre Impetus, der in den Schriften von Marx steckt: dass man das Ganze völlig neu aufstellen muss, das inspiriert Menschen, die mit den Verhältnissen radikal unzufrieden sind. Man muss nur manche Texte von Marx unbefangen lesen, dann ist man durchaus überrascht, wie viel Power darin steckt.
Frage: Karl Marx hat nicht nur in der Studentenrevolte Anhänger gefunden. Seine Wirkung reichte bis in die Kirche hinein, etwa in der Befreiungstheologie. Kardinal Ratzinger hat das in den 1980er Jahren sehr kritisch bewertet und geschrieben, das marxistische Menschenbild sei mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Teilen Sie dieses Urteil?
Marx: Ja, das ist wahr. Für Marx geht es nur um die Gattung Mensch. Er nimmt den Einzelnen kaum in den Blick. Für uns Christen ist die Person zentral. Dem sind wir zwar historisch auch nicht immer gefolgt, aber wir wissen, dass wir kein Ziel anstreben können auf Kosten von Menschen, wie es der Marxismus meint, sondern dass der Mensch als Person immer im Mittelpunkt steht, und zwar jeder einzelne Mensch! Einige Theologen der Befreiung haben Anregungen der marxistischen Analyse übernommen. Die Fragestellung: Wie kommen Ungerechtigkeiten zustande? Wer hat welche Interessen? Wer ist von wem abhängig? Das waren richtige Fragen. Aber das marxistische Menschenbild bleibt problematisch, da hatte Kardinal Ratzinger Recht. Und das führt dann zu falschen Schlussfolgerungen.
Frage: Papst Franziskus hat mal das Verhältnis von Christen und Marxisten mit dem Satz umschrieben: "Die haben uns die Fahne geklaut!"
Marx: Ich versuche zu verstehen, was er meint. Für Deutschland stimmt der Satz nicht so ganz, es gab ja auch die katholische Arbeiterbewegung. Aber andererseits, wenn wir insgesamt in die Kirche des 19. Jahrhunderts schauen, war das sicher nicht die Mehrheit, Bischof von Ketteler war eher ein Außenseiter im Episkopat. In Lateinamerika war es noch einmal anders. Jedenfalls hätten wir uns die Fahne der Gerechtigkeit für die Arbeiter und die Solidarität mit denen, die durch einen ungebremsten Kapitalismus unter die Räder kommen, nie entreißen lassen dürfen! Das hat auch Oswald von Nell-Breuning, den ich noch gut kennengelernt habe, immer so gesehen.