Kirche für die 90 Prozent
"Eine Kirche für viele" ist der Titel von Erik Flügges neuem Buch – und kaum wurde der Titel öffentlich, hagelte es auch schon Beschwerden: Die Kirche müsse doch wohl für alle da sein und nicht bloß für viele, warf ein Kommentator dem Autor auf Facebook vor. Genau um diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit geht darin: Ein universeller Anspruch, aber bei Licht betrachtet erreicht die Kirche selbst einen Großteil ihrer Mitglieder nicht – und, so sieht es Flügge, sie versucht es nicht einmal: "90 Prozent der Kirchenmitglieder nehmen nicht am Gemeindeleben Teil. Sie zahlen nur für den Rest."
Warum dann nicht austreten? Flügge selbst sei vor dieser Frage gestanden, schreibt er eingangs. Er bleibt trotzdem, auch wenn er zu den 90 Prozent gehört. Sein Co-Autor David Holte dagegen ist aus der evangelischen Kirche ausgetreten und schildert in einem kurzen Einschub so nüchtern wie deprimierend die Entfremdung von der Kirche und das Desinteresse an ihm: "Ich habe mehr Zeit in den Austritt aus der Kirche investiert als die Kirche Zeit in mich."
Schonungslose Analysen
Die Diagnosen sind hart: Nicht nur was die katholische Kirche angeht; dem Christentum in Europa attestiert Flügge insgesamt eine strukturelle Mattheit und Glaubensschwäche. Schonungslos beschreibt er, wie die Kirche ihre Ressourcen zur Verwaltung der zehn Prozent aktiven Mitglieder verwenden würde, wie strukturkonservativ sie dabei vorgehe, und wie wenig Früchte das trüge. Das Vermögen der Kirche "steckt in der Struktur, es steckt in der Binnenkultur. Es steckt überall, nur nicht im Glauben vieler Mitglieder." Immer wieder wird dieser Satz variiert: Eine große Kirche, klein im Glauben. "Nichts darf sterben, aber alles im langen Siechtum verweilen."
In dieser Diagnose ähnelt Flügge den Autoren des "Mission Manifest", die ein ähnlich düsteres Bild der verfassten Kirche zeichnen. Deren programmatische Schrift ist auch die einzige der vielen derzeit kursierenden Reformforderungen, die er anführt. Für die Lösung, mit Gebet zu beginnen, hat er allerdings nicht viel übrig. "In all den vergangenen Jahrzehnten beteten die Christen, der Glaube der Kirche möge gestärkt werden. In all den vergangenen Jahrzehnten nahm der Glaube ab. Haben die sich allesamt verbetet?" Bei Flügge ist das keine Geringschätzung von Spiritualität; ohne dass er es explizit macht, klingt ein ignatianischer Ansatz an. Gebet ist für ihn wichtig, um die Hoffnung zu stärken, handeln muss man schon selbst.
Verstörend ungeistlich
Mit dem Beten hält sich Flügge nicht allzu lange auf. In den ersten Kapiteln wirkt das Buch daher auch verstörend ungeistlich, obwohl es doch um die Kirche geht. Da wird sehr nüchtern und betriebswirtschaftlich argumentiert: Die Kirche müsste ihre Ressourcen gerecht verteilen. Nicht das Geld von 100 Prozent auf die Vorlieben und Strukturen des "heiligen Rests" von zehn Prozent Aktiven anwenden, sondern für jedes Kirchenmitglied, aktiv oder nicht, den gleichen Betrag einplanen. Das Festhalten an Gebäuden und Institutionen, die bestenfalls einen Kern erreichen, und die ohne diese Zuschüsse keine Zukunft hätten, sieht Flügge als einen Grund für die mangelnde Prägekraft der Kirche an: Das Geld fließe dahin, wo es nur bewahrt und kaum etwas erreiche.
„Nicht die anderen sind verlorene Söhne, sondern die Aktiven in den Gemeinden sind es. Die haben das Erbe genommen und es verprasst.“
Wo genau die Zahlen herkommen, erläutert Flügge nicht, auch nicht, ob die zehn Prozent eine empirische Grundlage haben oder nur eine rhetorische Figur sind. Überschlagsmäßig rechnet er anhand von groben Schätzungen und Durchschnittswerten vor, dass genügend Ressourcen für sechs Stunden Kontakt pro Mitglied zur Verfügung stünden, würde man das Budget entsprechend umschichten, um nicht nur die zehn Prozent zu erreichen. "Für die allermeisten wäre das unfassbar viel mehr als alles, was sie jemals mit ihrer Kirche erlebt haben." Die Rechenaufgabe bleibt ein Gedankenexperiment: Zu wenig vergleichbar, zu sehr pauschaliert sind die Zahlen.
Das Erbe der Kirche verprasst
Auf dem kirchlichen Debattenparkett bekannt geworden ist Flügge mit seinem Buch über die Sprache der Kirche, an der sie – so der Titel des ersten Buchs – "verreckt". Auch das war bereits eine schonungslose Kritik an typisch kirchlichen Ausdrucksformen. Mit dem zweiten Buch liefert er nun etwas Praktisches nach: nämlich eine gute Predigt. Trotz aller nüchternen Betriebswirtschaft – die bei näherem Hinsehen eher plakatives Beispiel als seriöser Haushaltsentwurf ist – ist der Kern des knappen Bandes – 75 Seiten genügen ihm – eine Schriftauslegung. Flügge bürstet das Gleichnis vom verlorenen Sohn gegen den Strich und hält den von ihm identifizierten Zehn-Prozent-Christen den Spiegel vor: "Nicht die anderen sind verlorene Söhne, sondern die Aktiven in den Gemeinden sind es. Die haben das Erbe genommen und es verprasst." Das Erbe der Kirche, die Traditionen, der Glaube, die Ressourcen: Verprasst für ein schwindendes Kernmilieu.
Zur Diagnose haben die Autoren auch einen Lösungsansatz. Das Hauptgeschäft von Flügge und Holte ist Politikberatung, Flügges Agentur hat schon einige Wahlen bestritten. Das merkt man dem vorgeschlagenen Mittel der Wahl an: Hausbesuche. "Haustürwahlkampf" war die Mode-Methode bei der vergangenen Bundestagswahl. Auch in der Kirche soll das Schule machen: Haupt- und Ehrenamtliche sollen einfach in der Gemeinde die Mitglieder besuchen; das prägt auch aktuelle Wahlkämpfe.
Mission als Dialog
Ohne weitere Erläuterung ein gruseliges Modell: Religionsgemeinschaften, die an Türen klingeln, haben keinen guten Ruf. Kaum jemand dürfte sich über Zeugen Jehovas oder Mormonen auf Missionsbesuch freuen. Worum es Flügge geht, ist dann auch weniger eine zielgerichtete Bekehrung, sondern ein Dialogangebot. Die Kirche soll nicht nur Präsenz zeigen, sondern sich ehrlich und interessiert mit den Menschen auseinandersetzen, die sie antrifft: "In der Kirche sprechen wir ständig über den Wert von Glaubenszeugnissen. Besonders gerne wollen wir sie selbst abgeben. Viel wichtiger wäre es allerdings, wenn wir uns auf die Suche machen würden nach den Zeugnissen von Menschen, die kaum noch glauben oder anders."
Aus der Wahlkampf-Methode Hausbesuch macht Flügge so einen überraschend plausiblen Ansatz einer dialogischen Theologie. Er führt das Beispiel von Paulus an, der angesichts der griechischen Philosophie sich nicht "in einen Abwehrkampf gegen die Logik" zurückgezogen, sondern diese Denkform aufgenommen und für das Christentum produktiv gemacht hat: "Die Logik der Griechen half dem Christentum, mehr von sich selbst zu verstehen."
Raus aus den theologischen Filterblasen
Damit positioniert Flügge sich auch zu den vermeintlich "heißen Eisen" in der Debatte um die Zukunft der Kirche. Ihn stört, dass inhaltliche Debatten innerhalb der Kirche weniger um die Sache geführt werden, sondern stattdessen quasi Marketing seien: Liberale oder konservative Profile werden geschärft, Zielgruppen bedient – "preaching to the choir" heißt das auf Englisch, für die predigen, die eh schon überzeugt sind. Das führe dann zu selbstreferentiellen Systemen, die es aufgegeben haben, Menschen in ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Denkform zu erreichen und zu verstehen, zum intellektuellen Bankrott einer Institution.
„Die Logik der Griechen half dem Christentum, mehr von sich selbst zu verstehen.“
Flügge verzichtet über den Verweis auf die frühe Kirche hinaus auf eine kirchen- und geistesgeschichtliche Einordnung seiner Thesen. Er steht aber in der Kontinuität des Zweiten Vatikanums und dessen Versuch, sich von der Verengung der neoscholastischen Theologie des 19. Jahrhunderts zu lösen, die sich lieber in eine philosophische Filterblase aus Aristoteles und Thomas von Aquin zurückgezogen hat als die Methoden der Moderne produktiv für die Theologie zu machen. Flügge sieht heute wieder eine solche Verengung. Ein plakatives Beispiel dafür ist die feindselige Nicht-Rezeption postmoderner Denktraditionen. Dem stellt Flügge die intellektuelle Neugier der frühen Kirche entgegen: "Wir brauchen den Missionsbegriff der frühen Christenheit, bei dem man loszog, um vom eigenen Glauben zu erzählen und bereit war, aus der Antwort des Gegenübers Neues über den eigenen Gott zu erfahren", zeigt er sich überzeugt.
Die Gemeinde übernimmt die Funktion der Großeltern
Gegen Ende soll es noch konkret werden. Unmittelbar umsetzbar ist ein Beispiel: Eine Osterpostkarte an alle Gemeindemitglieder. "Ein kleiner Gruß von den Aktiven in der Kirchengemeinde an alle anderen." Einfach, niederschwellig umsetzbar, sogar eine Methodenbeschreibung in zehn Punkten liefert Flügge mit.
Die pastorale und katechetische Theorie, die den Hausbesuchen zu Grunde liegt, ist gut: Flügge weist darauf hin, dass Eltern und Großeltern als Vermittlungsinstanz des Glaubens zunehmen wegbrechen; eine missionarische, aufsuchende Gemeinde soll das ersetzen. Wie genau allerdings ein solcher Hausbesuch ablaufen soll, bleibt Flügge schuldig.
Kirche als Gemeinschaft, nicht als Dienstleisterin
Kirche wird bei ihm konsequent als Gemeinschaft gedacht, nicht primär als Dienstleisterin – und schon gar nicht als Dienstleisterin für die verbliebenen kirchlichen Kernmilieus. Flügges Entwurf ähnelt daher auch dem vielbeachteten Buch des ehemaligen Münsteraner Pfarrers Thomas Frings. Der hatte in seiner Streitschrift "Aus, Amen, Ende? So kann ich nicht mehr Pfarrer sein" die klassische Territorialgemeinde aufgegeben: "Entscheidungsgemeinde" war das von ihm ins Spiel gebrachte Modell, bei dem sich ein hochengagierter Kern zusammenfinden soll – allerdings nicht, um sich selbst zu genügen: "Nach außen Zuspruch, bis es weh tut, nach innen wachsender Anspruch", war die Formel, auf die Frings seine Reformvorschläge gebracht hat. Es lohnt sich, beide Bücher nebeneinanderzulegen: Beide Autoren haben einen hohen Anspruch an die Verantwortung der einzelnen Christen, beide sehen gegenwärtige Schwerpunktsetzungen und Prioritäten des kirchlichen Personals kritisch.
Allerdings bleiben Flügge wie Frings wirklich konkrete Lösungsvorschläge schuldig. Nicht ausgeführt wird bei Flügge, wie diese missionarische Haltung in der Praxis umgesetzt werden soll. Wirklich nur an den Türen klingeln und aufrichtig reden? Wie befähigt man, wie befähigen sich die Ehrenamtlichen, in dieser Art über den Glauben zu reden? Die Sprachlosigkeit in Glaubensdingen, die fehlende Übung bemängelt Flügge selbst. Hat die Kirche dafür das richtige hauptamtliche Personal? Gerade haben die katholischen Jugendverbände Forderungen an die Kirche zur Ausbildung der Seelsorger beschlossen: Raus aus den abgeschlossenen Seminaren und Konvikten, stattdessen hinein in WGs und Wohnheime, wie das für andere Studenten üblich ist – eine Forderung, die auch Flügges Programm dienlich wäre. Gerade mit seinem Hintergrund als Politikberater verwundert es, dass die viel – fast schon zuviel – rezipierte Milieuforschung gar nicht auftaucht: Sind die typischen kirchlich Engagierten überhaupt in der Lage, glaubhaft gegenüber allen Kirchenmitgliedern aufzutreten – oder wäre der typische Pfarrgemeinderat, der typische Priester an der Wohnungstür so fremd und unangenehm wie eben missionierende Zeugen Jehovas, obwohl man doch zumindest auf dem Papier zur selben Kirche gehört teilt? Und sind die "90 Prozent" tatsächlich so viele und so von der Kirche abgeschnitten? Aktuelle Studien kommen zu anderen Ergebnissen.
Die einfache Formel "Hausbesuche" ist in der Umsetzung um einiges komplizierter, als dass ein 75-seitiger Essay schon ein Patentrezept liefern könnte. Das Buch ist eine mitreißende Predigt, eine gute Erzählung, leistet aber keine belastbare empirische Analyse und verzichtet auf belegbare Fundierungen. Was Flügge aber gelingt, ist ein provozierender, manchmal verstörend direkter Anstoß, kritisch auf die real existierende Sozialgestalt der Kirche zu schauen und zu fragen, was wirklich dem Glauben dient, und was nur der Gewohnheit eines schrumpfenden Kernmilieus. Beeindruckend ist außerdem, wie es dem Politikberater gelingt, mit den Methoden seiner Profession die Grundzüge einer biblisch fundierten Missionstheologie zu entwickeln. Seine Gewährsleute sind dabei Paulus und die frühe Kirche. Doch das Neue Testament ist voll von weiteren gelingenden "Hausbesuchen": Der äthiopische Kämmerer, die Purpurhändlerin Lydia, die Frau am Jakobsbrunnen: Das sind biblische Vorbilder für einen so einfachen und naheliegenden wie anspruchsvollen und revolutionären Ansatz eines zeitgemäßen Missionsverständnisses.