"Was macht ihr da eigentlich in der Kirche?"
Rund drei Jahre ist Gregor Giele jetzt Pfarrer der neuen Propsteikirche in Leipzig. Seitdem hat er erfahren, wie ein Kirchengebäude die Atmosphäre einer Gemeinde zum Positiven ändern kann – und wie es auch für Nicht-Christen zu einem Stachel werden kann, der sie zu einer Reaktion nötigt. Für die Kirche in Westdeutschland hat Giele nach dem Hintergrund dieser Erfahrungen vor allem einen Rat: Raus aus der Depression!
Frage: Pfarrer Giele, seit 2015 ist die Propsteikirche das weithin sichtbare Zentrum des katholischen Lebens in Leipzig. Schon während der Bauphase fand die Kirche bundesweit große Beachtung, mit dem Bauwerk – dem größten Kirchenneubau in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung – wurden viele Erwartungen verknüpft. Wie fällt drei Jahre später Ihre Bilanz aus? Hat sich das Neubauprojekt gelohnt?
Giele: Auf jeden Fall. Die Erwartungen, die wir als Leipziger Katholiken selbst an das Projekt hatten, sind sogar deutlich übertroffen worden. Das ist für uns die größte Überraschung. Die katholische Präsenz und Erkennbarkeit in der Stadt hat durch den Neubau deutlich zugenommen. Der Bau entfaltet Wirkung, er ermöglicht den Katholiken – im positiven Sinne – einen selbstbewussten Auftritt. Wir strahlen mit der Propsteikirche in die Stadtgesellschaft aus. Über die Grenzen unserer Gemeinde hinaus wird wahrgenommen, dass hier in der Kirche viele Menschen zusammenkommen, dass hier viel stattfindet und die Gottesdienste gut besucht sind.
Frage: Sie sprechen von einem "selbstbewussten Auftritt", den der Neubau den Leipziger Katholiken ermögliche. Wie hat man sich das vorzustellen?
Giele: Lassen Sie es mich so sagen: Eine Minderheitensituation, wie wir sie als Katholiken in Leipzig erleben, birgt immer die Gefahr, sich noch mehr zurückzuziehen und das Vertraute in den engen Grenzen der eigenen Gruppe zu suchen. Mit unserem Neubau gehen wir nun seit drei Jahren genau den entgegengesetzten Weg: Auch wenn wir als Katholiken nur ein kleine Gruppe sind, machen wir die Türen zur Stadt weit auf. Wir begreifen uns als Teil der Stadtgesellschaft, wir wollen uns beteiligen und erkennbar sein. Der Neubau hat in diesem Sinne viel bewegt – und auch die Atmosphäre in der Gemeinde selbst positiv verändert.
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Wie steht es um das kirchliche Leben in der ostdeutschen Diaspora? Gibt es nur die vielzitierten Abbrüche? Am Beispiel von Leipzig, Jena und Gera hat katholisch.de die Situation unter die Lupe genommen. (Artikel von November 2017)Frage: Sie sind mit dem Neubau mitten in das Zentrum von Leipzig gezogen. Der Turm der Propsteikirche ist zwar deutlich kleiner als der Turm des benachbarten Neuen Rathauses, trotzdem kann man die Kirche nicht übersehen. Welche Reaktionen löst der Bau denn bei der großen Mehrheit derjenigen Leipziger aus, die nicht katholisch sind?
Giele: Wir erleben eigentlich alles, die ganze Bandbreite an Reaktionen. Die Architektur der Kirche erfährt viel Zustimmung. Ebenso die Tatsache, dass die katholische Kirche in der Stadt durch den Neubau wahrnehmbarer und erlebbarer geworden ist; das begrüßen viele Menschen. Aber natürlich gibt es auch gegenteilige Äußerungen: Für viele Menschen ist unsere so prominent in die Stadtmitte gebaute Kirche ein Stachel, der zu einer Positionierung zwingt – und zwar nicht nur zur Architektur des Gebäudes, sondern auch zu dem, wofür Kirche inhaltlich steht. Es findet also eine Auseinandersetzung mit der Kirche statt – aber das ist von uns ja auch gewollt.
Frage: Sie haben vorhin gesagt, dass die Gottesdienste in der neuen Kirche gut besucht werden. Können Sie konkrete Zahlen nennen?
Giele: Wir haben an den Wochenenden inzwischen etwa 200 bis 300 Gottesdienstbesucher mehr als früher in der alten Propsteikirche. Das liegt sicher auch daran, dass wir an unserem neuen Standort leichter auffindbar und mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen sind. Aber auch das Kirchengebäude selbst spielt für die Teilnahme am Gottesdienst eine wichtige Rolle: Der liturgische Raum in der Propsteikirche ermöglicht eine intensive Mitfeier des Gottesdienstes; das reizt viele Menschen, zu uns zu kommen.
Frage: Die Zuwächse beim Gottesdienstbesuch klingen eindrucksvoll, trotzdem sind die Katholiken in Leipzig mit einem Anteil von weniger als fünf Prozent weiterhin und wohl auch auf Dauer nur eine kleine Minderheit. Wie funktioniert Christsein in so einer Umgebung?
Giele: Die Katholiken, die hier groß geworden sind, kennen die Situation gar nicht anders; die Diaspora ist sozusagen ihr natürliches Habitat. Insofern löst diese Situation auch keine Ängste aus. Klar ist aber: Als Katholik in Leipzig steht man unter einem gewissen Druck, seinen Glauben immer wieder neu erklären zu müssen. Wenn Menschen, denen das Christentum komplett fremd ist, uns fragen "Was macht ihr da eigentlich in der Kirche? Und was habt ihr davon?" müssen wir ihnen Antworten geben.
Frage: Der Berliner Hochschulseelsorger Pater Max Cappabianca hat vor kurzem in einem katholisch.de-Interview die These aufgestellt, dass das Leben als Christ in der Diaspora leichter sei als in traditionell katholischen Regionen, weil man die christliche Botschaft in einem kirchenfernen Umfeld glaubwürdiger leben könne. Stimmen Sie ihm zu?
Giele: Ich tue mich schwer damit, die Minderheitensituation, wie wir sie hier in Leipzig erleben, mit volkskirchlich geprägten Regionen zu vergleichen. In beiden Fällen wird das Christsein ganz unterschiedlich gelebt, und ich könnte nicht sagen, was besser und was schlechter ist. Natürlich schaue ich manchmal neidvoll auf gewisse Selbstverständlichkeiten in katholisch geprägten Gebieten. Andererseits erlebe ich hier in Leipzig täglich die Stärken der Diaspora. Das Zusammengehörigkeitsgefühl derer, die zur Gemeinde gehören, ist – so glaube ich – bei uns stärker, weil es eben nicht so selbstverständlich ist. Manchmal habe ich zudem den Eindruck, dass das Christsein in der Diaspora ein Stück bewusster gelebt wird, weil man eher unter Rechtfertigungsdruck steht.
Frage: Was sagen Sie denn zu der These, dass die ostdeutsche Diaspora die Zukunft der Kirche in Deutschland ist? Immerhin leben Sie hier schon heute eine Form von Kirche vor, wie sie angesichts der sinkenden Zahl der Kirchenmitglieder auch vielen bislang volkskirchlich geprägten Regionen in Westdeutschland bevorsteht...
Giele: Ich hoffe und bete, dass wir nicht die Zukunft der deutschen Kirche sind (lacht). Ich vertrete eher die Auffassung, dass sich die ostdeutsche Diaspora noch einmal deutlich von der Minderheitensituation in Westdeutschland unterscheidet. Klar: Wir erleben auch im Westen einen Abschied aus der verfassten Kirche. Trotzdem findet sich dort immer noch eine grundsätzliche Bejahung des Göttlichen. Das ist im Osten ganz anders: Hier hat die große Mehrheit keinerlei Bezug zu Transzendenz. Die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge werden von der Gottesfrage nicht beunruhigt. Sie leben sehr gut ohne Gott, denn sie wissen gar nicht, dass ihnen etwas fehlt. Insofern sollte man mit Blick auf die Entwicklung der Kirche in Deutschland die regionalen Unterschiede zwischen Ost und West nicht außer Acht lassen.
Frage: Für das Diaspora-Jahrheft des Bonifatiuswerks haben Sie vor Kurzem einen kleinen Text über die ostdeutsche Diaspora geschrieben. Darin schreiben Sie, dass es in den vergangenen Jahren vielerorts einen Wandel gegeben habe und man sich die Stärken der Minderheitensituation deutlicher bewusst gemacht habe. Außerdem habe die Bejahung des Ist-Zustands zu einer positiveren Stimmung in den Gemeinden geführt. Können Sie das näher erläutern?
Giele: Mein Eindruck ist, dass die Grundstimmung in der deutschen Kirche seit vielen Jahren eher bedrückt ist. Vielerorts ist die Rede vom "noch" – noch haben wir einen Pfarrer, noch gibt es bei uns jeden Sonntag einen Gottesdienst... Das ist ja fast schon depressiv! Mit einer solchen Grundstimmung glaubt uns doch kein Mensch, dass wir eine Frohe Botschaft zu verkünden haben. In unserer Gemeinde – und das wollte ich in dem Text für das Bonifatiuswerk zum Ausdruck bringen – erlebe ich eine andere Atmosphäre. Hier ist eine Freude am Glauben spürbar, die Menschen neugierig macht und für die Kirche und ihre Botschaft begeistern kann. Viele Menschen in unserer Gemeinde sagen sich: "Gott hat uns in die Wirklichkeit der Diaspora gestellt. Der will das so, machen wir das Beste draus!"