Erzabtei St. Ottilien als jüdischer Hoffnungsort
Das Grauen lag hinter ihnen, eine ungewisse Zukunft vor ihnen. Tausende jüdische Häftlinge einte dieses Schicksal, als die US-Armee sie am 29. April 1945 aus ihrer Gefangenschaft im Konzentrationslager Dachau befreite. Sie waren abgemagert, kraftlos und teilweise lebensbedrohlich erkrankt. Ihr weiterer Weg: ungewiss. Doch unter diese Ungewissheit mischte sich auch Hoffnung. Und die trug den Namen "St. Ottilien".
Sankt Ottilien ist ein stattliches Benediktinerkloster im oberbayerischen Landkreis Landsberg am Lech. 1887 gegründet, erhielt es 1902 den Rang einer Abtei und wurde nach Gründung dreier weiterer Abteien 1914 sogar zur Erzabtei und Hauptkloster der Missionsbenediktiner ernannt. Doch 1941 vertrieben die Nationalsozialisten die Benediktinermönche und machten aus dem Kloster ein Kriegslazarett. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges übernahmen drei jüdische Ärzte die Leitung des Hauses und gründeten ein Hospital für ehemalige jüdische Häftlinge.
"Das war eine beeindruckende Leistung, denn die drei waren selbst ehemalige KZ-Häftlinge und haben alles alleine organisiert", erklärt Pater Cyrill Schäfer, der am Aufbau des digitalen Archives beteiligt war. Er erzählt auch, dass das damalige Krankenhaus unter dem Namen "DP-Hospital" bekannt war. Der Name geht zurück auf die Bezeichnung "Displaced Persons (DP)". Ausländer, die sich kriegsbedingt nicht in ihrer Heimat befanden, bekamen diesen Titel von den alliierten Streitkräften.
Deutsch-jüdische Zusammenarbeit
Zu den rund 1.500 deutschen Soldaten, die zum damaligen Zeitpunkt noch im Krankenhaus versorgt wurden, stießen immer mehr jüdische Gefangene aus dem Konzentrationslager Dachau hinzu. Mitte Mai 1945 lag die Anzahl der Patienten insgesamt bei etwa 2.100. Die Verlegung der Soldaten in andere Krankenhäuser zog sich bis zu einem halben Jahr hin, sodass zeitweise deutsche Soldaten und jüdische KZ-Befreite gemeinsam medizinisch versorgt wurden. "Das war etwas Besonderes", merkt der 53-jährige Benediktinermönch Schäfer dazu an. Obwohl es naheliegend scheint, seien bisher jedoch keine Informationen über Konflikte zwischen den Gruppen bekannt.Die Ärzte und Krankenschwestern des ehemaligen Militärkrankenhauses arbeiteten auch im DP-Hospital mit und unterstützten die jüdischen Leiter. Einer der deutschen Ärzte war der junge Hanns Kaiser.
Ihm blieb vor allem die schlechte Verfassung der Patienten in Erinnerung. "Ich habe in meinem Leben noch nie Menschen in einem solchen Zustand gesehen…es waren Skelette, so etwas habe ich weder vorher noch nachher irgendwo gesehen… es war entsetzlich", sagte er 2010 in einem Interview mit einer Mitarbeiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau. "Es war eine große emotionale Belastung und hat mich noch jahrelang in Träumen verfolgt, es war ein Schock – erst war man ganz gelähmt, dann verzweifelt. Es war furchtbar."
Die jüdischen Patienten hatten sowohl körperliche als auch psychische Krankheiten. "Eigentlich war alles aus dem medizinischen Lehrbuch hier vertreten", fasst es Pater Schäfer zusammen. Häufig seien es jedoch Tuberkuloseerkrankungen gewesen.
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Hanns Kaisers Sohn Peter erinnert sich noch gut an die Berichte seines inzwischen verstorbenen Vaters: "Im Gegensatz zum damals üblichen Schweigen über die NS-Verbrechen hat er immer wieder von seinen Erfahrungen in St. Ottilien gesprochen und meinen Bruder und mich zur Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte angehalten." Neben seinem Vater war auch seine Mutter Mitarbeiterin im Hospital, als Krankenschwester. 1945 haben sie geheiratet. Für die Fahrt zur Kirche habe Ihnen der Abt des Klosters St. Ottilien eine Kutsche zur Verfügung gestellt.
Hoffnungsvoller Neuanfang
Dass das Krankenhaus ein Ort der Hoffnung war, zeigen vor allem die über 400 Kinder, die von jüdischen Paaren in der dreijährigen Krankenhausgeschichte zur Welt gebracht wurden. Heute sind die sogenannten "Ottilien-Babies" zwischen 70 und 73 Jahre alt und leben zum Großteil in den USA, in Israel oder Australien. "Immer wieder kommen Anfragen aus dem Ausland zu uns, weshalb auch unser Archiv auch auf Englisch ist. Die Kinder haben von ihren Eltern viel über St. Ottilien gehört. Für viele war das Krankenhaus ein besonderer Ort. Deshalb wollen sie mehr darüber wissen", erzählt Pater Schäfer. Er ist bereits einigen "Ottilien-Babies" begegnet und berichtet davon, dass die Besuche meist sehr emotional sind.
Von einem besonderen Zeichen des Neuanfangs berichtet auch der ehemalige US-Soldat Robert L. Hilliard in einem Buch. "Hunderte spindeldürrer, abgemagerter, blasser, skeletthafter und ausdrucksloser Gestalten", sollen bei seiner Ankunft im Kloster vor einer notdürftig errichteten Bühne gestanden haben. "Männer und Frauen brachten Geigen, Hörner und Gamben auf die Bühne." Instrumente, die die ehemaligen Gefangenen über die Jahre aus Holz, Saiten und Metallteilen alter Instrumente in den Konzentrationslager gebaut haben sollen. Dieses Erlebnis vom 27.Mai 1945 ist heute unter dem Namen "Befreiungskonzerts" bekannt. Mit diesem Konzert haben die Juden ihre Befreiung und damit auch das Leben gefeiert.
Wie Fotos aus der damaligen Zeit zeigen, wurde im Krankenhaus jeder Platz so gut es ging genutzt. In den Patientenzimmern reihten sich die einfachen Krankenbetten mit den kleinen Nachttischen dicht an dicht nebeneinander. Der Platz zwischen ihnen reichte gerade mal um Ein- und Auszusteigen. Über den Betten hing ein großes Kreuz mit Jesus an der Wand. Ansonsten waren die Wände kühl und leer. Das Krankenhaus war als Provisorium gedacht und nicht als dauerhafte Einrichtung.
Ende einer prägenden Zeit
Bereits zwei Jahre nach Eröffnung des DP-Hospitals, war sein Ende abzusehen. Im März 1947 wurde der Klosterflügel von St. Ottilien vollständig wieder an die langsam zurückkehrenden Mönche zurückgegeben. In den Monaten danach folgten weitere Räume, wie zum Beispiel der Lagerraum des Krankenhauses.1948 wurde St. Ottilien schließlich nach sieben Jahren den Benediktinermönchen vollständig übergeben. Die meisten Patienten waren zu diesem Zeitpunkt geheilt und entlassen worden oder wurden in umliegende Krankenhäuser verteilt.Auch wenn die drei Jahre von 1945 bis 1948 nur ein kleiner Teil in der über hundertjährigen Geschichte des Klosters sind, haben sie große Bedeutung. St. Ottilien war nicht nur ein Ort um medizinisch versorgt zu werden. Es war für die jüdischen Häftlinge das erste Zuhause nach der prägenden Gefangenschaft. Die Erzabtei wurde zum Symbol des Neuanfangs. Ein Hoffnungsort.