"Ich trage weder Lederhose noch Kollar"
Rainer Maria Schießler (58) ist durch seine unkonventionelle Seelsorge und medienwirksamen Aktionen weit über Bayern hinaus bekannt. Als Stadtpfarrer ist er für die Gemeinden St. Maximilian und Heilig-Geist in München zuständig. Die letzten Jahre kellnerte der Seelsorger während des Oktoberfestes im Schottenhamel-Zelt. Seine Einnahmen spendete er für wohltätige Zwecke. In gewohnt offener Manier spricht er im katholisch.de-Interview über das Oktoberfest, den Missbrauchsskandel der Kirche und sein neues Buch.
Frage: Herr Pfarrer Schießler, haben Sie Ihre Lederhose für das Oktoberfest schon bereit gelegt?
Schießler: Ich gehe nie in Tracht auf die Wies'n. Als Münchener kriegt man mich nicht so schnell in so etwas hinein. Ich besitze zwar eine Lederne, aber die trage ich nur beim Sommerfest in der Pfarrei oder wenn ich auf einen Berg gehe. Zum Oktoberfest bin ich meistens in einer leichten bayerischen Tracht unterwegs mit "Pfoad", einem Trachtenhemd, dazu Janker oder Weste, das genügt. Für mich ist eine Lederhose immer wie ein Fremdkörper. Genauso fremd ist mir übrigens auch das Priesterhemd mit Römerkragen. Ich trage nie ein Kollar.
Frage: Warum nicht?
Schießler: Ich bin ein Kind der nachkonziliaren Zeit, das heißt, ich habe den Aufbruch damals nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hautnah miterlebt. So etwas vergisst man nicht. Ich habe eine Kirche kennengelernt, die sich öffnet, weil sie ein Herz für die Menschen hat und bestimmt nicht, weil sie eine Uniform trägt. Dieses Konzil hat die klerikale Uniform verbannt. Ein schwarzes Hemd mit einem weißen Kragen zu tragen, wäre für mich daher befremdlich. Ich brauche diese Verkleidung nicht. Manche meiner Amtsbrüder haben vor einigen Jahren wieder begonnen, so gekleidet herumzulaufen. Ich habe sie gefragt, warum sie das tun. Die Antwort war: "Weil man das halt so macht." Ich frage mich, ob auch alle nackt herumlaufen würden, weil ein anderer es ihnen vormacht. Es ist falsch zu denken, wir müssen uns nur so oder so kleiden, um als Kirche erkennbar zu sein und das System aufrecht zu erhalten. Das wird so nicht funktionieren. Ich muss als Christ erkennbar sein, weil ich durch meine Taufe gesalbt bin, nach Christus schmecke und seinen Lebensduft ausstrahle. Das ist unsere Aufgabe als Christen.
Frage: Ob mit oder ohne Kollar: Werden Sie auf der Wiesn als Seelsorger unterwegs sein?
Schießler: Also im Suff braucht mir niemand seine Lebensgeschichte erzählen. Wer mit mir sprechen will, der soll nüchtern sein und dann in den Beichtstuhl zu mir kommen, um zu beichten. Es wäre schlimm, wenn Seelsorge nur mit Alkohol funktionieren würde. Nein, nein, die Leute sollen sich nicht im Rausch bei mir ihre Last von der Seele reden.
Frage: Wird es einen Gottesdienst zum Start des Oktoberfestes geben?
Schießler: Im Wiesnzelt "Marstall", dem früheren Hippodrom, gibt es jedes Jahr einen Wiesngottesdienst am Donnerstag in der ersten Wiesnwoche. Den gestaltet aber die Schaustellerseelsorge. Damit habe ich nichts zu tun. Ich habe dieses Jahr schon eine große Bergmesse auf einem Münchner Hochhaus gefeiert, das ist so etwas Ähnliches: Eine gewohnte Liturgie an einem ungewohnten Ort! Wenn die Leute um 10 Uhr morgens zur Messe ins Bierzelt gehen und dort die gebratenen Schweinshaxen riechen, ist das schon etwas Besonderes.
Frage: Gab es Kritik, als Sie die letzten Jahre im Bierzelt gekellnert haben?
Schießler: Sicher haben das einige kritisch gesehen. Aber niemand hat mich persönlich darauf angesprochen. Beschwerden kamen nur über Dritte bei mir an. Das ist typisch Kirche: Es findet einfach keine Kommunikation statt. Auch die Vertuschung der Missbrauchsskandale rührt genau daher. Man spricht nicht miteinander. Diese Krise hätte es nie gegeben, hätte man das Problem nicht über Jahre in den inneren Zirkeln, in den kirchlichen Häusern, Seminaren und Internaten versteckt. Es blieb alles viel zu lange unter der Decke.
Frage: Aber der Missbrauch hört auch nicht auf, seitdem man darüber spricht…
Schießler: Es hört nicht auf, weil wir keine strukturellen Änderungen vornehmen. Wir gehen die heißen Eisen nicht an. Themen wie Zölibat, Sexualität, Homosexualität, der Umgang mit Frauen in der Kirche, darüber müssten wir viel offener reden und neu und anders als bisher definieren. Auch dürfte niemand in eine Führungsposition kommen, der diesem Druck, darüber zu sprechen, nicht standhalten kann. Viel zu lange habe wir übersehen, wie überfordert manche durch die Herausforderungen ihrer Arbeit und die geforderte Lebensweise sind. Defizite werden dann unterdrückt oder ertränkt, Stichwort Alkohol. In der Ausbildung von Seelsorgern muss das doch die entscheidende Frage sein: Kann der das wirklich leben?
Frage: Geben Sie dem Zölibat die Schuld am Missbrauchsskandal?
Schießler: Ich sage immer, wer beschädigt im Zölibat ankommt, der kommt total verkrüppelt im Priesterberuf an. Kirche muss sich fragen, was da los ist. Warum verhindern wir es noch immer, verheiratete Männer gültig zu Priester zu weihen? Warum ist die eheliche Bindung nicht ebenso radikal wie die Entscheidung zur Ehelosigkeit? Wieso wird hier von vornherein gewertet? Wir brauchen Menschen in der prophetischen, weil auf die Jenseitigkeit in Gott hinweisenden zölibatären Lebensweise. Aber warum beschneiden wir uns der besonderen Verkündigung des Evangeliums durch Menschen, die das gerade deswegen können, weil sie in einer ehelichen Liebe und Gemeinschaft geborgen sind? Warum schließen wir Frauen nach wie vor vom Amt aus? Warum wird diese amtsmäßige Diskriminierung des weiblichen Geschlechts einfach so in diesen modernen Zeiten hingenommen? Warum beschneiden wir all diese Wege? Dadurch entsteht so eine Enge in der Kirche. Und wenn Kirche nicht offen für diese Themen ist, kommt es irgendwann zu einem Infarkt. Es gibt den persönlichen Infarkt, wenn jemand unter einer verklemmten oder nicht aufgearbeiteten Sexualität leidet, und es gibt den Infarkt der Kirche. Momentan ist bereits sichtbar, dass die Kirche nach Luft ringt.
Frage: Leiden Sie persönlich unter dem Missbrauchsskandal?
Schießler: Ich leide nicht. Dieser Skandal macht mich vielmehr aggressiv und gleichzeitig auch aktiv. Ich bin für eine menschliche und transparente Kirche. Diese positive Vision von Kirche treibt mich an, mich den Fragen, die die Menschen an mich haben, zu stellen. Wenn ich sehe, wie einzelne Kardinäle den Papst unter Druck setzen, nur weil ihr Stolz verletzt wurde, macht mich das wütend. Das ist doch Schizophrenie! Ein rotes Gewand beeindruckt mich schon lange nicht mehr, wenn der Mensch, der drinsteckt, krankhaft ist. Kirche muss schauen, dass sie sich von solch kranken Menschen trennt, um wieder zu gesunden.
Frage: Wie gehen Sie persönlich mit der Einsamkeit als Priester um?
Schießler: Ich gehe hinaus in die Welt. Das ist das Beste, was man gegen die Einsamkeit tun kann. Ich bin vielleicht nur in meiner Wohnung, um zu duschen und zu schlafen. Das Leben findet draußen statt, wo die Menschen sind, und sie sind auch im Bierzelt. Wenn ich nach einem langen Tag nach Hause komme, bin ich froh, für eine Stunde meine Ruhe zu haben. Aber ich brauche auch soziale Netzwerke und Freunde um mich herum. Mit wem verbringe ich denn sonst mein Alter? Wer wird mich pflegen und für mich da sein, wenn ich es selbst nicht mehr kann? Ich habe den Zölibat versprochen, aber ich kann doch trotzdem jemanden lieben, ohne dass ich mit der Person Sex habe oder heirate. Ich muss auch als Priester Menschen lieben können und zu jemanden sagen können: Ich liebe dich. Zölibat bedeutet nicht, dass ich meine Liebesfähigkeit für immer aufkündige und abgebe. Diese Gabe, andere zu lieben, hat uns Jesus beispielhaft vorgelebt.
Frage: Ihr neues Buch heißt "Jessas, Maria und Josef!". Worum geht es darin?
Schießler: Meine Mutter hat immer "Jessas, Maria und Josef!" gesagt, wenn ihr etwas ziemlich "Überirdisches" passiert ist, wenn sie eine brenzlige Situation überstanden hat oder großes Glück erfahren hat, wenn ihr ein Unglück oder ein Missgeschick passiert ist. Für mich klingt dieser Ausruf nach ganz viel Dankbarkeit und Herzenswärme. Es könnte aber auch ein Hilferuf oder ein Verzweiflungsruf sein. Ich meine, da steckt das ganze Leben drin. Genau darum geht es in meinem Buch: um Fragen des Zusammenlebens, des Zweifelns und des Glaubens, um das, was im Alltag trägt und Halt gibt.