Papst räumt in Estland Versagen der Kirche ein
Papst Franziskus hat in Estland institutionelles Versagen der Kirchen eingeräumt. Viele Jugendliche sprächen offen aus, dass Kirchenvertreter kein Gehör mehr fänden und ihre Glaubwürdigkeit verloren hätten, sagte er am Dienstag bei einem ökumenischen Jugendtreffen in der lutherischen Karlskirche von Tallinn. Auch seien sie empört über Missbrauchs- und Finanzskandale.
Franziskus sagte, allzu oft hätten sich die Kirchen in sich verschlossen und zu wenig zugehört. Ihnen wie auch "allen institutionellen Religionsgemeinschaften" falle es oft leichter zu reden, als sich anfragen und belehren zu lassen. Viele junge Menschen erwarteten inzwischen nichts mehr von der Kirche; sie sei als Gesprächspartner für ihr Leben bedeutungslos geworden.
Möglichkeit aktiver Teilhabe vorenthalten
Jugendliche wendeten sich auch ab, weil sie in der Kirche Kompetenz und Gespür für ihre Anliegen vermissten oder ihnen die Möglichkeit aktiver Teilhabe vorenthalten werde, sagte Franziskus. Diese Fragen wolle die im Oktober tagende Bischofssynode im Vatikan angehen. Als Grund für den Kontaktverlust der Kirche zur Jugend nannte Franziskus auch fehlende Authentizität der Seelsorger. Junge Menschen suchten einen Begleiter, der keine Angst vor der eigenen Schwäche habe.
Die katholische Kirche zählt unter den 1,3 Millionen Einwohnern Estlands rund 6.500 Mitglieder. Das sind 0,5 Prozent der Bevölkerung.
Die estnische Gesellschaft forderte Franziskus auf, die Erinnerung an den Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit lebendig zu halten. Der erreichte Fortschritt verdanke sich der Mühe, der Arbeit, dem Geist und dem Glauben der früheren Generation, betonte er bei einem Empfang durch Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid. Dabei verwies er auf das gute internationale Abschneiden Estlands bei Entwicklung, Pressefreiheit, Demokratie und politischer Freiheit.
Auch Kaljulaid sagte, in einer Zeit raschen Wandels und wirtschaftlicher Entwicklung dürften die Schwächsten in der Gesellschaft nicht vernachlässigt werden. Wirtschaftlicher Erfolg verpflichte zur Sorge für andere.
"Riesenschritte" seit Befreiung von Sowjets
Estland habe seit der Befreiung von sowjetischer Herrschaft "Riesenschritte" vollzogen, sagte Franziskus. Allerdings sei Wohlstand "nicht immer bedeutungsgleich mit gut leben". Das Vertrauen in technologischen Fortschritt dürfe nicht die Fähigkeit zwischenmenschlicher, generationen- und kulturübergreifender Bindungen verkümmern lassen.
Mit dem Tagesbesuch in Tallinn beendete Franziskus seine am Samstag begonnene Baltikum-Reise. Am Nachmittag feierte er auf dem Freiheitsplatz der estnischen Hauptstadt eine Messe. Dabei appellierte er eindringlich an den Freiheitsgedanken und erinnerte an die "Singende Revolution" gegen die Sowjetherrschaft und an den "Baltischen Weg" von 1989, eine Menschenkette von zwei Millionen Personen von Tallinn bis Vilnius. Eine Absage erteilte er Demonstrationen nationaler Stärke in militärischen Drohungen und Truppenaufgeboten. Das sei nicht der Weg Gottes.
Am frühen Abend wollte Franziskus nach Rom zurückreisen. Anlass des Besuchs war der 100. Jahrestag der Unabhängigkeit der baltischen Staaten von Russland nach dem Ersten Weltkrieg. Es war das erste Mal seit 25 Jahren, dass ein Papst wieder die drei EU- und Nato-Länder bereiste. (tmg/KNA/dpa)