Einige Titel sind auch im Gotteslob vertreten

Neues Geistliches Lied: Früher Musik des Aufbruchs, heute Oldies

Veröffentlicht am 28.09.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Ein Priester spielt Gitarre bei einem Familiengottesdienst am 6. April 2015 in Fulda.
Bild: © KNA

Bonn ‐ Das Neue Geistliche Lied hat eine Erfolgsgeschichte hinter sich: Kurz nach dem Zweiten Vatikanum war es die Musik des Aufbruchs, die gregorianische Choräle ersetzte. Heute sind die eingängigen Melodien als Oldies beliebt – oder verhasst. Doch noch immer werden NGL-Lieder verfasst.

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Manchmal braucht es nur ein paar Wörter und der Ohrwurm ist perfekt. Wie wäre es mit "Kleines Senfkorn Hoffnung…" oder "Herr, Deine Liebe, ist wie Gras und Ufer…"? Bei diesen Worten haben wahrscheinlich nicht wenige Gläubige sofort eine Melodie im Ohr – zumindest, wenn sie die einschlägige Sozialisation in einer katholischen Gemeinde oder einem Verband durchlaufen haben. Die Liedtitel gehören zu einer Musikgattung, die vor allem in den letzten Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende prägend war: Das Neue Geistliche Lied. 

Entstanden ist das Genre im Fahrwasser des Zweiten Vatikanischen Konzils. "Es war der musikalische Ausdruck für die damalige kirchliche Aufbruchsstimmung", sagt der katholische Theologe Peter Hahnen, der seine Doktorarbeit über das Neue Geistliche Lied schrieb. Zu Beginn der 1960er Jahre sei die gottesdienstliche Musik noch fast ausschließlich durch Orgel, gregorianischen Choral und herkömmliche Liedgesänge geprägt gewesen, erklärt er: "Viele Musiker haben sich gefragt: Wie können wir das Aggiornamento, die Tatsache, dass Kirche sich in ihre jeweilige Zeit eingebettet fühlt, auch in der Kirchenmusik ankommen lassen?" Zunächst sei mit Jazz-Elementen experimentiert worden, doch es habe sich schnell gezeigt, dass diese Musik zu kompliziert war, um zu gewährleisten, dass das Gros der Gläubigen mitsingen konnte. Deswegen habe man sich dann an der eingängigeren Beat-Musik orientiert, sagt Hahnen. Das NGL war geboren.

Doch die Anfänge waren schwer, erklärt der 55-Jährige. Nicht bei jedem Geistlichen seien die neuen Titel gut angekommen. "Ich will keinen mehr beim Vater Unser mit dem Arsch wackeln sehen", dieser entsetzte Ausspruch eines seinerzeit einflussreichen evangelischen Publizisten sei über viele Jahre kolportiert worden, so Hahnen. Plötzlich hielten Lieder mit leichten Akkorden Einzug in die kirchliche Jugendarbeit und in Liturgiefeiern, deren Texte nicht selten auch politische Andeutungen hatten. "Die 60er Jahre waren nicht nur die Zeit des Konzils, sondern auch die Zeit, als die Gläubigen versuchten, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und als die ethischen Ansprüche des weltkirchlichen Christentums auch in deutschen Bistümern und Gemeinden ankamen", sagt Hahnen. Dafür sensibilisierte etwa die Arbeit des gerade erst gegründeten bischöflichen Entwicklungshilfswerks Misereor. "Singt dem Herrn alle Völker und Rassen" oder "Die Waffen verrotten zu Staub" sind Beispiele für solche weltkirchlich orientierten Neuen Geistlichen Lieder.

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Video: © Benjamin Krysmann

Der Kinder- und Jugendchor St. Nikolaus von Tolentino und Jugendchor Johannes der Täufer singt in der katholischen Kirche Heilige Familie in Rösrath-Kleineichen.

Während seiner Blütezeit in den 70er und 80er Jahren brachte das dann eine Flut von Stücken mit Ohrwurmpotential hervor. Immer neue Liederbücher entstanden. "Ins Wasser fällt ein Stein" und "Alle Knospen springen auf" etwa wurden zum Standardrepertoire der musikalischen Jugendarbeit. Inzwischen haben es jede Menge "Neue Geistliche Lieder" sogar ins Gotteslob geschafft. "Selig seid ihr" hat Peter Janssens etwa 1979 zu einem Text von Friedrich Karl Barth und Peters Horst komponiert. "Wenn das Brot, das wir teilen" von Texter Klaus-Peter März und Komponist Kurt Grahl  stammt aus dem Jahr 1981. Neueren Datums sind etwa die 2000 komponierte Version von "Jesus Christ, your are my life" (Komponist: Marco Frisina), eine Version des Psalms "Aller Augen warten auf Dich" von Thomas Quast von 2009 oder "Behutsam leise nimmst Du fort" von Raymund Weber (Text) und Christoph Seeger (Melodie) aus dem Jahr 2004.

Trotz einiger Kompositionen in der jüngsten Zeit ist es inzwischen jedoch deutlich ruhiger geworden um das Neue Geistliche Lied. In seinem Buch "Liederzünden" aus dem Jahr 2009 greift Peter Hahnen eine spöttische Bemerkung auf, die sich Vertreter des Genres wohl häufiger anhören müssen: Aus dem NGL seien NGO geworden – Neue Geistliche Oldies. Mancher Gläubige kann die alten, endlos wiederholten Lieder buchstäblich nicht mehr hören. Solche Kritikpunkte kann Peter Hahnen durchaus nachvollziehen. "Wenn wir jahrelang immer die gleichen Lieder immer wieder singen, dann wirkt das irgendwann nur noch niedlich und anachronistisch", sagt er.

Nicht nur von gestern: Es gibt auch NGL-Lieder aus jüngerer Zeit

Das "Elend der Repertoirebildung" gelte besonders für ein Genre, das das Wörtchen "Neu" im Titel trage. "Das Neue Geistliche Lied ist nun mal in der Popularmusik verortet. Und das verlangt einen gewissen aktuellen Bezug, auch auf die zeitgenössische Spiritualität". Beim Stichwort NGL hätten viele aber immernoch das Bild von einem Lagerfeuer im Kopf, an dem mit Gitarrenbegleitung "Kleines Senfkorn Hoffnung" gesungen werde. "Das ist aber ein Klischee und entspricht nicht der Gegenwart des Neuen Geistliches Liedes", erklärt Hahnen entschieden.

Auch wenn es nicht mehr so viele seien und nicht alle einen großen Bekanntheitsgrad erlangten: Es gebe durchaus neue Textschöpfungen und Kompositionen, wie etwa die Werke Thomas Quasts und Christoph Seegers mit den Texten von Thomas Laubach oder die Werke von Gregor Linßen zeigten. Jedes Jahr befasst sich zudem eine überdiözesane Fachtagung mit dem Thema, auch aktuelle Lied- und Chorhefte wurden in den vergangenen Jahren herausgegeben und über den Arbeitskreis "Singles" (Singen Internationaler Neuer Geistlicher Lieder – Ein Serviceangebot) des BDKJ-Diözesanverbands Köln können sogar Liedblätter des NGL im Abo bestellt werden.

Porträt eines dunkelhaarigen Mannes.
Bild: ©Privat

Martin Stuflesser ist Priester der Diözese Mainz und Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius Maximilians-Universität in Würzburg.

Die bisweilen zu hörende Kritik, das "Neue Geistliche Lied" sei – gemessen am Ideal des gregorianischen Chorals — der Feierlichkeit von Gottesdienstfeiern nicht angemessen, kann Hahnen nicht nachvollziehen. "Man kann jeden Gottesdienst versauen. Das passiert an der Orgel genauso wie an der Gitarre", sagt er trocken. Liturgiewissenschaftler sehen das ähnlich. Professor Martin Stuflesser aus Würzburg nennt einige Kriterien, die aus liturgischer Perspektive entscheiden, ob ein Lied auch für den Gottesdienst angemessen ist. "Das Lied sollte textlich möglichst nah am vorgesehenen liturgischen Text sein", erklärt er. Sprich: "Nicht jedes Lied mit der Zeile 'Herr erbarme dich' taugt als 'Kyrie', nur alleine das Wort 'Heilig' macht kein 'Sanctus'". Lieder im Gottesdienst müssten strengeren Kriterien genügen als Gebete in Liedform. Zweitens verweist Stuflesser auf das Prinzip der "tätigen Teilnahme". Laut dem Zweiten Vatikanischen Konzil soll es jedem Gläubigen möglich sein, aktiv am Gottesdienstgeschehen teilzunehmen. Ein Gottesdienstlied sollte also leicht mitzusingen sein – ein Kriterium, das viele Neue Geistliche Lieder wegen ihrer bewusst einfachen Struktur erfüllen sollten.

Auch im österreichischen Stift Heiligenkreuz hat man keine schlechte Erfahrungen mit dem NGL gemacht. "Das Neue Geistliche Lied ist nach wie vor präsent in unserer Jugendarbeit", sagt Pater Johannes Paul Chavanne vom Institut für Liturgiewissenschaft und Kirchliche Musik der Hochschule Heiligenkreuz. Aus seiner Sicht ist der Text entscheidend - "und da sind in der Messliturgie mit dem Ordinarium natürlich andere Grenzen gezogen als etwa einer Marienandacht oder einem Lobpreis", erklärt er.

Jenseits dessen sei in der Musik aber vieles auch schlicht "Geschmacksfrage". So hat Pater Johannes Paul etwa beobachtet, dass gerade in Zeiten einer Dauerbeschallung von Internet und Smartphone wieder mehr Jugendliche ruhigere Musik mögen, die weniger hektisch ist  - "eine Musik der Stille", wie der Pater sagt. Und Martin Stuflesser spricht von einem "natürlichen Ausleseprozess": Wie viele von hunderten von aktuellen Liedern in 200 Jahren noch gesungen würden, sei offen. "Aber das galt ja für die Musik des Barock genauso". Man darf also gespannt sein auf die Ohrwürmer der kommenden Generationen.

Von Gabriele Höfling