Über das Verhältnis von Theologie und Lehramt

Die Kirche verweigert sich der Selbstaufklärung

Veröffentlicht am 18.10.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Freiburg ‐ Die Causa Wucherpfennig hat gezeigt, wie kritische Theologen vom Vatikan abgestraft werden. Doch auch grundsätzlich hat die Theologie eine angespannte Beziehung zum Lehramt. In seinem Gastbeitrag auf katholisch.de kommt der Fundamentaltheologe Magnus Striet zu dem Schluss: Die Kirche hat im Bereich der Lehre ein massives Problem.

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Man kann der Bildungskongregation in Rom ungeschicktes Verhalten in der Causa Ansgar Wucherpfennig vorwerfen, eines aber nicht: Dass sie nicht papsttreu sei. Wie sich Papst Franziskus über beiläufige Bemerkungen hinaus lehrmäßig zur Frage gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften verhalten wird, ist noch offen. Seine Vorgänger hingegen waren da entschieden. In einem im Jahr 2005 in deutscher Sprache veröffentlichten Text über die Ideologien des Bösen kommt Johannes Paul II. etwa auf die "perversen Programme der nationalsozialistischen Ideologie" der Massenvernichtung von Menschen zu sprechen. Ferner fragt er auch danach, ob nicht heute wieder "eine neue Ideologie des Bösen am Werk" sei, homosexuelle Verbindungen "als eine alternative Form der Familie" anzuerkennen.

Und als Benedikt XVI. am 22. September 2011 seine Rede im Deutschen Bundestag hielt und von der "Ökologie des Menschen" sprach, bemerkten wohl nur wenige, was er meinte. Aber auch hier ging es der Sache nach um nichts anderes als um homosexuelle Lebensgemeinschaften. Wenn Benedikt XVI. eine "objektive Vernunft" in Anspruch nimmt und zugleich davon spricht, dass die "Natur" nur dann Normen enthalten könne, "wenn ein Wille diese Normen in sie hineingelegt" habe, dann heißt das: Gott wollte nur die heterosexuelle Ehe zwischen Mann und Frau. Humanwissenschaftliche Forschungen muss man dann nicht mehr zur Kenntnis nehmen, weil man ja schon um das, was eigentlich sein soll, weiß.

Die Angst davor, innerhalb von Religionsgemeinschaften und der Kirchen neue Wissensbestände theologisch zu durchdenken, ist alt. Sozialpsychologisch nachvollziehbar ist dies, geht es dann doch immer auch um die historisch gewachsene Glaubensidentität. In der römisch-katholischen Kirche jedoch gibt es ein Sonderphänomen, und das lautet: das Lehramt. Die seit dem 19. Jahrhundert über den Antimodernismus aufgebaute Identität der Kirche konnte zwar durch das Zweite Vatikanische Konzil aufgebrochen werden. Die Konstruktion der eigenen Identität wurde auf der Lehrebene kräftig weiter über das Amt betrieben.

Bild: ©Britt Schilling/FRIAS

Magnus Striet ist Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.

Wurden Korrekturen vorgenommen, dann im Normalfall durch die Praxis des Verschweigens. Was nicht wiederholt wird, gerät ins Vergessen. Im Fall der Todesstrafe hat Papst Franziskus das in diesem Jahr allerdings ausdrücklich korrigiert, indem er diese grundsätzlich als mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar ausgeschlossen hat. Je häufiger aber Positionen als zu halten eingeschärft wurden und werden, um so schwieriger wird es, sie zu revidieren. Zurückhaltend agiert hat das Lehramt in Fragen der Sexualmoral nicht gerade.

Kant: Der Aufgeklärte sagt nie, er lebe in einem aufgeklärten Zeitalter

Als Immanuel Kant im Jahr 1784 die berühmte Preisfrage bearbeitete, was denn Aufklärung sei, hat er zu einer lehrreichen Unterscheidung gefunden. Es mag paradox klingen, ist es aber nicht: Wer aufgeklärt sein will, wird nie behaupten, in einem aufgeklärten Zeitalter zu leben. Ausgerufen werden kann ein Zeitalter der Aufklärung, was bedeutet: Aufklärung kann es nur als einen auf Dauer gestellten Prozess geben. Was gestern noch nicht gewusst wurde, muss heute in das zur Verfügung stehende Wissen integriert werden. Und was bisher als Wissen galt, muss möglicher Weise korrigiert werden.

So betrachtet, hat die katholische Kirche ein massives Problem. Zumindest auf der Ebene der Lehre hat sie sich diesem von Kant beschworenen Willen zur Selbstaufklärung solide verweigert. Und Fragen von Sexualität sind nur ein Beispiel für diese Selbstverweigerung. Allerdings ein drastisches. Es gehört zum Versagen der Institution katholische Kirche, präziser: es ist die Schuld von Verantwortungsträgern, das gesamte Feld vermint zu haben. Wer sich bis zum Pontifikat von Franziskus von Seiten der akademischen Theologie zu Fragen der menschlichen Sexualität moraltheologisch äußerte und humanwissenschaftliches Wissen in die theologische Arbeit zu integrieren versuchte, wurde leicht sanktioniert. Und es wurde sanktioniert! Sich hier historisch ehrlich zu machen, ist eines der Gebote der Stunde.

Jesuit Ansgar Wucherpfennig
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Der Neutestamentler Ansgar Wucherpfennig ist Rektor der Theologisch-Philosophischen Hochschule Sankt Georgen. Nach seiner Wiederwahl als Leiter der Jesuiten-Hochschule wurde ihm das notwendige "Nihil obstat" vom Vatikan verweigert.

Sich dafür zu schämen, was an sexualisierter Gewalt an Minderjährigen geschah, reicht nicht aus. Die systemisch bedingte mangelnde diskursive Offenheit hat mit dazu geführt, dass Gewalt ausgeübt wurde. Und auch die Verletzung von homosexuellen Menschen muss endlich ein Ende haben. Letzteres aber wird nur dann gelingen, wenn freimütig-diskursiv gedacht werden darf und die Lehre geändert wird. Denkangebote liegen längst vor, weil die akademische Theologie zumindest in Teilen längst nachgedacht hat. Der akademischen Theologie Untätigkeit vorzuwerfen, ist ein Witz. Ihre Ergebnisse wurden nicht rezipiert. Und wenn sie heute massiv unter Druck steht, weil sich das Interesse am Fach verliert, so hat dies sicherlich mehrere Gründe. Ihre Nicht-Rezeption gehört dazu.

Wissenschaftsrat hat Theologie in Deutschland gestärkt

Die mediale Aufmerksamkeit, die die Causa Ansgar Wucherpfennig - Gott sei Dank - erfahren hat, ist auch noch von einer anderen Seite her verheerend. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Fortentwicklung theologischer Forschung an staatlichen Universitäten aus dem Jahr 2011 haben die akademischen Theologien gestärkt. Grundlage dieser Empfehlungen war, dass die religiösen Überzeugungsgemeinschaften innerhalb des an sich religiös neutralen staatlichen Universitätssystems Selbstakademisierung betreiben wollen. Sich über sich selbst als Religionsgemeinschaft aufzuklären und verantwortet theologisch weiterzuentwickeln, muss dann die Agenda sein.

Wucherpfennig arbeitet zwar nicht an einer staatlichen Einrichtung, aber: Bleibt der Eindruck bestehen, dass man römischerseits meint, Denkverbote aufstellen zu dürfen, so lässt dies die Frage aufkommen, wie viel akademische Freiheit an staatlich unterhaltenen katholischen Fakultäten sein darf. Man muss diese nicht wollen. Man kann sich zurückziehen in ein kirchliches Hochschulsystem, das mit ihren Lehrpraxen auf Kurs ist. Den schleichenden, teils inzwischen dramatischen Prozess eines kulturellen, auch weil intellektuell nicht satisfaktionsfähigen Niedergangs des Katholizismus, würde dies verstärken. Bei Hannah Arendt findet sich das Wort, kein Mensch habe das Recht zu gehorchen. Übersetzt: Wer Gründe hat zu handeln, muss handeln. Und auf der Ebene des Lehramtes sollte man darüber nachdenken, ob nicht Korrekturen in der Lehre dem Selbstanspruch von Lehrautorität genügen würden. Am Ende überzeugen ohnehin nur Gründe.

Von Magnus Striet