"Eine kurios kostbare Mischung"
Auch lange nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag sieht man ihn fast täglich auf dem Weg zu seinem Büro, auf das er als ehemaliger Bundestagspräsident Anspruch hat. Wolfgang Thierse ist auch ohne politisches Amt ein gefragter Interviewpartner. Er erhebt seine Stimme für den Bau eines Einheitsdenkmals und engagiert sich gegen Rechtsextremismus.
Zuletzt erhob er nach den Vorfällen in Chemnitz seine Stimme und rief zu mehr Dialog auf. Wegen der Blockade eines Neonazi-Aufmarsches in Dresden musste er sogar eine Zeit lang rechtliche Konsequenzen fürchten. Thierse begründet sein politisches Engagement auch mit seinem Glauben: Er ist katholisch und seit Jahren einer der Sprecher des Arbeitskreises Christen in der SPD. Am 22. Oktober wird er 75 Jahre alt.
Dabei wurde Thierse erst spät parteipolitisch aktiv: 1943 in Breslau geboren, siedelte sich seine Familie nach der Vertreibung im thüringischen Eichsfeld an. Dass die Region als eine der wenigen auf dem Gebiet der DDR katholisch geprägt ist, muss seinem Vater sehr entgegengekommen sein. Er war Mitglied der katholischen Zentrumspartei, später CDU-Kreistagsabgeordneter.
Der Sohn machte zunächst eine akademische Karriere. Nach dem Abitur studierte er Germanistik und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach erworbenem Diplom war er zunächst wissenschaftlicher Assistent an der Sektion Kulturwissenschaften der Ost-Berliner Universität, bevor er in das Ministerium für Kultur der DDR wechselte.
Seine Karriere dort endete 1975, als er sich weigerte, eine Erklärung zu unterzeichnen, die die Ausbürgerung des Liedermachers und Regimekritikers Wolf Biermann unterstützen sollte. Thierse kehrte in die Wissenschaft zurück und kam am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR unter. Dort wirkte er unter anderem an Drehbüchern für sieben Dokumentarfilme mit.
In katholischen Jugendgruppen "Demokratie gelernt"
Politisch engagierte sich Thierse ab der Wende von 1989. "Demokratie gelernt" hat er nach eigenem Bekunden aber bereits in den Diskussionen in katholischen Jugendgruppen. Nach dem Ende des SED-Regimes trat er der Bürgerbewegung Neues Forum bei und wurde schließlich Anfang 1990 Mitglied der SPD. Bereits im September desselben Jahres wurde er auf der Vereinigungsparteitag der West- und Ost-Partei stellvertretender Parteivorsitzender.
Ebenfalls im selben Jahr kam Thierse in den ersten gesamtdeutschen Bundestag. Höhepunkt seiner politischen Karriere war seine Wahl zum Bundestagspräsidenten acht Jahre später. In diesem Amt wurde er 2002 bestätigt.
In seine Amtszeit fiel unter anderem die Entscheidung zum Bau des Holocaust-Mahnmals in Berlin-Mitte, für das er sich vehement einsetzte. Er lehnte es ab, die Widmung des Denkmals auf andere Opfergruppen auszweiten. Das Mahnmal bezeichnete er als Zeichen für künftige Generationen, sich der Vergangenheit zu stellen und Lehren aus ihr zu ziehen.
Fast prophetisch mahnte er in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), "gerade den künftigen Generationen muss die Verletzbarkeit der Menschenrechte und die Zerstörbarkeit von Demokratie vermittelt werden". Und weiter: "Angesichts der Fremdenfeindlichkeit in unserem Land soll das Holocaust-Mahnmal in Berlin auch in der Gegenwart dazu auffordern, den Mitmenschen - egal welcher Hautfarbe, egal welcher Religion - zu achten."
Thierse: AfD nicht mit christlichen Werten vereinbar
Thierse engagiert sich auch im Zentralkomitee der Katholiken (ZdK). Dort tritt er immer wieder dafür ein, dass die Kirchen sich klar gegen die AfD positionieren. Mit christlichen Grundüberzeugungen und Werten lasse sich das, was die AfD ausmache, nicht vereinbaren, so Thierse, der sich seit Jahren an Podien auf Katholiken- und Kirchentagen beteiligt.
Er sei eine "kurios kostbare Mischung", sagt Thierse über sich selbst. Es gebe immer noch viele, die ihn für einen Pastor hielten. Ein Mahner bleibt er vermutlich auch in Zukunft, der auch die Kirchen regelmäßig dazu aufrief, sich zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen zu äußern und selbstbewusst ihre Haltung zu bekunden.