Wenn das Beichtgeheimnis an die Grenzen kommt
Jochen Sautermeister ist Moraltheologe und psychologischer Lebensberater in Bonn. In Gesprächen berät er Seelsorger und Seelsorgerinnen, wie sie sich in Konfliktsituationen verhalten sollen. Eine solche Situation ist etwa, wenn ein Geistlicher in der Beichte von sexuellem Missbrauch erfährt. Was dann besonders wichtig ist, erklärt Sautermeister im katholisch.de-Interview.
Frage: Herr Sautermeister, wie soll sich ein Seelsorger verhalten, wenn in der Beichte von sexuellem Missbrauch gesprochen wird?
Sautermeister: Wenn eine Person in der Beichte zur Sprache bringt, dass sie sexuell missbraucht wurde, dann hat sie dafür selbstverständlich keine Schuld und muss diese auch nicht beichten. Die Schuld hat der Täter einzugestehen, nicht das Opfer! Leider gibt es jedoch in der Vergangenheit auch andere Erfahrungen im Beichtstuhl, von denen Betroffene berichten. Wenn in der Beichte Missbrauchserfahrungen zur Sprache kommen, muss es darum gehen, dem Beichtenden behutsam und einfühlsam zuzuhören und die seelische Not, das Leid und die Auswirkungen ernst zu nehmen, die sich auf das ganze Leben und die Beziehungen dieses Menschen erstrecken können. Generell kann man sagen: Immer wenn es um psychische Probleme, Krisen, Traumatisierungen oder Gewalterfahrungen geht, ist es gut, wenn Seelsorger Empfehlungen aussprechen, wo man kompetente, professionelle Hilfe bekommt oder ärztlichen Rat einholen kann. Alles, was im Beichtstuhl besprochen wird, darf aber nicht nach außen dringen.
Frage: Gilt dies auch für strafrechtliche Verbrechen?
Sautermeister: Ja, denn der Priester unterliegt dem strengen Beichtgeheimnis und ist zur Verschwiegenheit in Bezug auf alles, was ihm in der Beichte anvertraut wird, verpflichtet. Der Seelsorger kann aber den Beichtenden dazu einladen, das Gespräch außerhalb des Beichtstuhls fortzusetzen. Dort darf er nur über die Straftat sprechen, wenn der Pönitent ihn explizit darauf anspricht, ansonsten würde dies eine Verletzung des Beichtgeheimnisses bedeuten.
Frage: Aber damit schützt man doch die Täter…
Sautermeister: Das Beichtgeheimnis gilt unbedingt und wird bei Nichteinhaltung mit der Exkommunikation belegt. Für Geistliche besteht auch keine Anzeigepflicht, selbst wenn sie von Mord, Totschlag oder einem Missbrauch in der Beichte glaubhaft Kenntnis erhalten. Das ist anders als bei Psychotherapeuten und Berater, die zivil- und strafrechtlich auch der Schweigepflicht unterliegen, aber bei schweren bevorstehenden Straftaten zur Anzeige verpflichtet sind. Diese Praxis steht auch im Hintergrund verschiedener Forderungen, in schweren Ausnahmefällen, wie etwa sexualisierter Gewalt, das Beichtgeheimnis auszusetzen. Darüber hinaus sind Geistliche im deutschen Zivil- und Strafprozess berechtigt, vor Gericht ihr Zeugnis zu verweigern.
Frage: Aber wird der Beichtvater so nicht auch mitschuldig an der Tat?
Sautermeister: Das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn man von einer kriminellen Handlung weiß, diese nicht ernst nimmt und adäquat agiert, dann wird man auch in gewisser Weise schuldig. In den Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz wird festgelegt, wie man sich in solchen Fällen als Seelsorger zu verhalten hat. Der Priester hat dabei mit Klugheit und Behutsamkeit vorzugehen und zu suchen, wie dieser Person gut geholfen werden kann. Gegenüber den Betroffenen ist es wichtig, sie ernst zu nehmen, aber keinesfalls zu bedrängen.
Frage: Kann einem Sexualverbrecher in der Beichte die Schuld vergeben werden?
Sautermeister: Damit ein Gläubiger das Bußsakrament empfangen kann, bedarf es mehrerer Schritte: Nach einer sorgfältigen Gewissenserforschung, der Besinnung, sind die begangenen Sünden zu bekennen und zu bereuen. Man soll den festen Vorsatz haben, sein Verhalten zum Bessern hin zu ändern und Wege der Wiedergutmachung zu suchen. Das gilt selbstverständlich auch für Menschen, die Sexualstraftaten begangen haben. Nur wenn diese Bedingungen der Anerkennung der eigenen Verantwortlichkeit zu erkennen sind, kann einem Beichtenden das Sakrament der Versöhnung zugesprochen werden. Es geht also nicht ohne die Übernahme persönlicher Konsequenzen aus dem eigenen Handeln. Durch die erteilte Absolution erhalten die Beichtenden von Gott die Vergebung ihrer Sünden und werden zugleich mit der Kirche versöhnt.
Frage: Kann eine Psychotherapie die Beichte ersetzen?
Sautermeister: Wenn es um den tieferen und eigentlichen Sinn der Beichte, ihre religiöse Qualität geht, sicherlich nicht. Psychotherapie ist hilfreich und notwendig bei psychischen Krankheiten. Hier geht es um leibseelische Erkrankungen und Verletzungen, die professionelle Behandlung erfordern. Wenn der Betroffene merkt, dass er existentielle oder moralische Schuld auf sich geladen hat, kommt die Psychotherapie an ihre Grenze. Ein Psychotherapeut kann keine Schuld vergeben. Im Bußsakrament hingegen geht es um die Erfahrung von Enge, Hartherzigkeit und Schuld, um die Verletzung der persönlichen Integrität. Es geht um die Wahrnehmung und Aufarbeitung dessen, was man an Ungutem in die Welt gesetzt hat und man am liebsten rückgängig machen würde. Hier setzt sich der Beichtende also mit der Frage auseinander, wo er schuldig geworden ist, wo er sich selbst und andere verletzt hat, wo er hinter dem zurückgeblieben ist, was lebensdienlich ist, oder wo er bewusst schaden wollte. Aber auch damit, was es schwer macht, aus der Liebe Gottes zu leben.
In der Beichte betrachtet man die Schattenseiten des eigenen Lebens im Lichte der Barmherzigkeit Gottes und der Zusage von einem Neuanfang. Das Sakrament der Beichte spricht die Vergebung Gottes zu. Wenn jedoch ein Mensch so sehr unter der Last begangener Schuld leidet und es nicht gelingt, die Zusage der Vergebung wirklich anzunehmen, oder wenn man nicht weiß, wie man heilvolle und heilsame Prozesse der Veränderung im eigenen Lebens ermöglichen kann, kann es oft hilfreich und sinnvoll sein, zusätzlich zur Beichte psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um die Schuld schrittweise aufzuarbeiten. Auch das kann in der Beichte angesprochen werden.
Frage: Wie geht man im Beichtstuhl mit Frauen um, die abgetrieben haben?
Sautermeister: Das ist ein sehr sensibles und schwieriges Thema. Im Jahr 2017 gab es über 100.000 Abtreibungen in Deutschland. Aus Psychotherapie und Beratung weiß man, dass sehr viele Frauen, die abgetrieben haben, auch später enorm darunter leiden. Sie fragen sich zum Beispiel, was wohl aus dem getöteten Kind geworden wäre, oder spüren, dass das Leben eines Menschen nicht zur Entfaltung kommen konnte. Trauer, Schuld- und Verlustgefühle, aber auch Reue sind solche seelische Nöte. Dies wird aber oft in der Gesellschaft verschwiegen. Psychotherapie und Beratung können dabei helfen, damit umzugehen. Aber Vergebung im existenziellen Sinne ist in der Therapie so nicht möglich. Dann kommt die existentielle und religiöse Dimension für die Betroffenen ins Spiel: Wie ist es möglich, mit dieser irreversiblen Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch zu leben? Wie kann Vergebung, Aussöhnung und Neuanfang geschehen und spürbar werden, wo doch keine wirkliche Wiedergutmachung möglich ist? Für die Beichtpastoral ist Abtreibung eine große Herausforderung, wo doch Gottes liebende Zuwendung und Zukunft eröffnende Vergebung in aller Schuld erfahrbar werden soll.
Frage: Das ist für die Betroffenen leichter gesagt als getan, oder?
Sautermeister: Das stimmt. Die allerwenigsten Frauen nehmen eine Abtreibung unüberlegt oder leichtfertig vor. Der Seelsorger sollte also immer zuhören und versuchen zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, was es für die Person bedeutet und wie es ihr geht. Denn es geht immer um den einzelnen Menschen, um die Lebensumstände und Lebensgeschichte, darum was einem Menschen dazu gedrängt oder genötigt hat, eine Abtreibung vorzunehmen. Es geht dabei keineswegs darum, die Abtreibung zu bagatellisieren oder leichtfertig die Person zu moralisieren, sondern mit ihr ehrlich auf die Situation zu schauen und zu suchen, welche Wege gegangen werden können. Denn der Schmerz über die Abtreibung, die Reue, trifft tief in das Herz. Manches aber bleibt ein Leben lang eine offene Wunde.
Frage: Wenn jemand schwer erkrankt, fragt man sich vielleicht auch, ob man selbst daran schuld ist…
Sautermeister: Wenn jemand erkrankt, hat das erst einmal nichts mit Schuld zu tun. Es gibt im Johannesevangelium die Erzählung vom Blindgeborenen (Joh 9): Jesus macht unmissverständlich klar, dass weder der Mann noch seine Eltern gesündigt hätten und dieser deshalb blind sei. Schuldzuweisungen haben manchmal auch eine psychische Funktion: Wenn wir uns oder anderen, unberechtigt, die Schuld für etwas zuweisen, dann versuchen wir damit unser Weltbild in Ordnung zu bringen. Aber so einfach ist es nicht. Es gibt unerklärliches Unglück, tragisches Scheitern und unkontrollierbare Ohnmachtsgefühle. Die Frage, wie Gott so etwas Schlimmes zulassen kann, also die Theodizee-Frage, wird durch Schuldzuweisungen unter Menschen abgemildert und kann so verharmlost werden.
Frage: Viele Kranke stellen sich die Frage: Warum ich?
Sautermeister: Die Frage, warum man selbst oder ein nahestehender Mensch von einer Krankheit betroffen ist, ist sehr nachvollziehbar. Das kann oft der Versuch sein, verstehen zu wollen, warum das so ist. Man erhofft sich dann mit einer Antwort, die Krankheit und ihre Bedeutung besser einordnen oder vielleicht sogar annehmen zu können. Mit der Warum-Frage kann sich aber auch genauso Empörung, Verzweiflung oder die Klage ausdrücken, dass es nicht fair ist unter dieser Erkrankung zu leiden.
Es gibt ein geläufiges Sprichwort, das immer noch kursiert: "Gott bestraft die kleinen Sünden sofort“. Und die Rede von Krankheiten und Katastrophen als Strafe Gottes ist, leider Gottes, immer noch verbreitet. Als theologisch aufgeklärte und christlich gebildete Menschen wissen wir aber, dass das falsch ist. Denn unserem christlichen Glauben zufolge ist Gott kein Buchhalter, der moralische Konten führt und sanktioniert. Gott ist unbedingte Liebe und Barmherzigkeit. Aber selbst, wenn man das weiß und daran glaubt, kann es passieren, dass einem in Krisensituationen doch solche Gedanken kommen. Dann fragt man sich vielleicht, was man getan hat, dass einem so etwas Schreckliches zugestoßen ist? Hinter dem Bemühen, eine Krankheit durch Schuld zu erklären, kann auch die nicht bewusste Absicht stehen, das schwer erträgliche Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins durch Schulderklärungen zu vermeiden. Denn Schuldzuschreibungen implizieren, dass man letztlich doch die Kontrolle darüber hätte und es vermeidbar gewesen wäre. Sicherlich, es gibt natürlich auch Erkrankungen und Verletzungen, die durch falsches, riskantes oder schädliches Verhalten begünstigt oder verursacht werden.
Frage: In einem Beitrag des von Ihnen und Herrn Skuban herausgegebenen "Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge" steht auch der Satz: "Menschen können durch traumatische Erlebnisse einen Sinn im Leiden finden." Wie ist das zu verstehen?
Sautermeister: Für sich genommen, kann dieser Satz sehr missverständlich sein. Denn Traumatisierungen, destruktive leibseelische Verletzungen, dürfen nicht verharmlost werden! Dahinter steht aber, richtig verstanden, eine wichtige Einsicht und therapeutische Perspektive. Im therapeutischen Handeln ist es ein Ziel, den Betroffenen dabei zu helfen, das Trauma zu bewältigen, um nicht daran zu zerbrechen, sondern damit leben zu können und positive Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Wenn dies gelingt, kann man die je vorhandenen persönlichen Möglichkeiten, Ressourcen und kreativen Potenziale eines Menschen aufspüren, so dass diese lebendig werden können. Dann eröffnet sich auch eine realistische Hoffnung auf Heilung und Entwicklung in seelischen Nöten von Krankheit, Trauma und Krise. Dies kann, je nach Schweregrad, ein anstrengender Prozess sein, der mitunter viel Zeit benötigt, bis es einem gelingt, solche Verwundungen in das eigene Leben zu integrieren oder gar daran zu wachsen. Diese Erwartung an die Betroffenen sollte jedoch von außen nicht aufgedrängt werden. Das wäre übergriffig.
Immer wieder berichten Menschen, die sich bewusst mit schwerer leibseelischer Erkrankung oder Traumatisierung in Psychotherapien auseinandergesetzt und schwere Krisen bewältigt haben, dass sie ihr Leben intensiver und achtsamer erleben, Beziehungen bewusster gestalten, dankbarer auch für scheinbar Selbstverständliches sind, oder nun wissen, was ihnen guttut und was sie meiden wollen. Hierbei war psychotherapeutische Unterstützung sehr hilfreich, aber auch die solidarische und mitfühlende Begleitung von anderen.
Wenn Menschen leibseelischen Erkrankungen und traumatischen Erlebnissen später auch gute Seiten abgewinnen können, dann hat dies neben der aktiven therapeutischen Arbeit immer auch etwas Geschenktes und Verdanktes, was sich nicht machen lässt. Dazu kann auch gehören, neue Sinnerfahrungen im Leben zu machen oder auch ein vertieftes religiös-spirituelles Erleben zu entwickeln, was sich positiv auf das eigene Lebensgefühl, die Gestaltung von Beziehungen und die Lebensführung auswirkt. Wenn dies gelingt, kann man sagen: Gott sei Dank.