An der Hand des Vaters durchs Inferno

Wie Charlotte Knobloch die Reichspogromnacht erlebte

Veröffentlicht am 09.11.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Den Holocaust überlebte sie als vermeintlich uneheliche Tochter einer fränkischen Katholikin: Charlotte Knobloch war noch ein Kind, als die Synagogen brannten. Bis heute ist der 9. November kein normaler Tag für sie.

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9. November 1938: NS-Propagandaminister Joseph Goebbels hält in einem Münchner Bierkeller eine Rede zum Gedenken an den Hitlerputsch 15 Jahre zuvor. Die Synagoge ist nur wenige Meter entfernt. Goebbels braucht nicht lange, um seine Parteigenossen aufzuwiegeln. Seine kurze Rede wird mit stürmischem Beifall quittiert. "Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln", schreibt er in sein Tagebuch.

Ein anonymer Anrufer rettet ihr wohl das Leben

An diesem Abend ereignet sich das bis dahin größte Pogrom der Neuzeit in Mitteleuropa. Charlotte Knobloch, die damals noch Neuland heißt und viel später Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland wird, ist sechs Jahre alt, als der braune Mob loszieht, um jüdische Geschäfte zu zerstören, Menschen zu verprügeln, bloß weil sie Juden sind, und ihre Gebetshäuser in Brand zu setzen.

Bild: ©Andreas Gregor

Charlotte Knobloch war von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Ein anonymer Anrufer meldet sich bei Fritz Neuland, er solle mit seiner Familie auf die Straße gehen, es sei etwas gegen die Juden im Gange. "Mein Vater hat nie gewusst, wer das war", hat Knobloch einmal in einem Interview erzählt. Als die Nazis eintreffen, um ihn abzuholen, ist er nicht mehr da, nur noch die Großmutter.

"An der Hand meines Vaters irre ich durch die Straßen", schreibt sie später in ihren Erinnerungen. "Ich muss mich anstrengen, um mit Vater Schritt zu halten." Um sie herum - Lärm und Geschrei, zerschlagene Scheiben, herabfallende Trümmer, überall Uniformierte und teilnahmslose Gaffer.

Die Synagoge brannte schon

Fritz Neuland lenkt ihre Schritte zunächst in die Innenstadt. Am Stachus hat der Rechtsanwalt seine Kanzlei. Von einer Telefonzelle aus ruft er an, eine Männerstimme antwortet, dabei hat er gar keine männlichen Mitarbeiter. Also weiter, zur Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße. "Die hat schon geraucht", erinnert sich die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Und dass sie sich damals gefragt habe, warum da keine Feuerwehr kommt und löscht.

Zwei Nazis kleben Schilder an eine Schaufensterscheibe, um die anderen Deutschen zum Boykott ihrer Mitbrüger aufzurufen.
Bild: ©KNA

Nationalsozialisten rufen zu einem Boykott jüdischer Geschäfte auf. An den Fensterscheiben werden Aufrufe angeklebt.

Der Vater zieht seine weinende Tochter Richtung Sendlinger Tor. Er will einen Freund warnen, Justizrat Rothschild, Charlotte nennt ihn "Opa". Doch sie kommen zu spät. Vor der Tür steht schon ein Gefängniswagen. Sie treiben Rothschild aus dem Haus, und dieses Bild wird Knobloch ihr ganzes Leben nicht mehr vergessen: Um den Kopf hat "Opa" eine weiße Binde, durch die Blut dringt. Sie schubsen ihn und verfrachten ihn mit Tritten und Schlägen ins Auto. Charlotte wird ihn nie wiedersehen - und sie weiß ab diesem Moment: "Nichts wird je wieder so werden, wie es einmal war."

Vater und Tochter laufen nach Gauting zu einem ehemaligen Kollegen von Fritz Neuland, der kein Jude ist. Der lässt sie bei sich übernachten. Und Charlotte ist in dieser Nacht überzeugt, dass auch ihr Haus brennt, dass sie nie mehr nach Hause kommt. "Das kleine Mädchen verstand nichts und verstand doch alles", sagt sie heute. Als "Lotte Hummel" überlebt Charlotte Knobloch den Holocaust. Das ehemalige Dienstmädchen ihres Onkels in Nürnberg, eine fromme Katholikin, nimmt sie 1942 mit in ihre fränkische Heimat und gibt sie als ihre uneheliche Tochter aus. Auch ihr Vater übersteht die Verfolgung.

Die Erinnerung und die Hoffnung wach halten

Wieder und wieder muss sie nach dem Krieg ihre Erlebnisse erzählen, bei fast jedem Jahrestag, den runden erst recht. Dabei weiß die bald 86-Jährige auch, dass die Zeitzeugen langsam aussterben.

Umso wichtiger war ihr stets, dass der 9. November, ihr 9. November, nicht einzig und allein mit den schrecklichen Erlebnissen von 1938 verbunden bleibt. Ganz bewusst terminierte sie die Grundsteinlegung der neuen Münchner Hauptsynagoge Ohel Jakob 2003 auf dieses Datum. Und auch den Termin der Einweihung drei Jahre später. So wurde die Feier für die gebürtige Münchner Jüdin zu einem persönlichen Triumph: Das Bleiben hat sich gelohnt.

Und doch kommen in ihr jedes Jahr am 9. November wieder dieselben Fragen auf: Was Menschen Menschen antun können - wie es sein konnte, dass sie für Nachbarn, mit denen die Familie jahrelang zusammengelebt hatte, plötzlich als "Auswurf" galt, den man anspucken darf.

Von Christoph Renzikowski (KNA)