Auch EKD-Synode beschäftigt sich mit sexuellen Übergriffen

Missbrauch ist nicht nur ein katholisches Problem

Veröffentlicht am 14.11.2018 um 10:45 Uhr – Lesedauer: 

Würzburg ‐ Derzeit tagt die EKD-Synode in Würzburg. Dort zeigt sich: Das Thema Missbrauch ist nun auch in der evangelischen Kirche angekommen. Die Protestanten wollen mit einem 11-Punkte-Plan Kinder schützen. Doch Applaus für eine Rede zum Thema sorgte für Irritation.

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Spät ist sexueller Missbrauch auch ein evangelisches Topthema geworden. Lange ist der Protestantismus im Windschatten der katholischen Kirche in ruhigem Gewässer gesegelt. Klerikalismus, Zölibat, geschlossene Milieus und eine rigide Moral schoben sich in die öffentliche Wahrnehmung, weil sie sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche wahrscheinlich begünstigen. Das verdeckte den Blick dafür, dass die evangelische Kirche das Problem des Missbrauchs ebenfalls gründlich aufarbeiten muss, auch wenn Ursachen und Gefahren anders liegen. Die Langzeitstudie, die die katholischen Bischöfe im September vorlegten, hat Druck entfaltet bis hinein in die evangelische Schwesterkirche. Deren Synode hat Anfang November 2018, wenige Wochen nach der katholischen Studie einen 11-Punkte-Plan gebilligt, mit dem der Protestantismus bei der Bewältigung des Missbrauchs aufschließen will. Die evangelische Kirche hat sich dazu durchgerungen, auch ihrerseits umfassende Untersuchungen auf den Weg zu bringen – und damit die 20 evangelischen Landeskirchen zu überzeugen, das nachzuholen, was die 27 katholischen Bistümer schon hinter sich gebracht haben, um hinter den einzelnen Fällen das Ausmaß einzuschätzen und systemische Ursachen zu erkennen.

"Es wäre sehr gut gewesen, wenn wir das früher aufgegriffen hätten."

Lange hatte es den Anschein, sexualisierte Gewalt sei vor allem ein katholisches Problem. Dabei war klar, dass auch evangelische Pastoren, kirchliche Mitarbeiter und ehrenamtliche Helfer sich an Heranwachsenden vergangen hatten. 2014 hatte die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland schon das Disziplinarrecht für Pfarrer verschärft. Irmgard Schwaetzer, die Präses der Synode, gab sich vor der Presse selbstkritisch: "Es wäre sehr gut gewesen, wenn wir das früher aufgegriffen hätten."

Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs wird nun Sprecherin eines fünfköpfigen Beauftragtenrates der evangelischen Kirche für sexualisierte Gewalt. Sie ging Missbrauchsfälle in ihrer Kirche an, wegen derer ihre Vorgängerin Maria Jepsen zurückgetreten war, und hat das erste Präventionsgesetz in einer evangelischen Landeskirche durchgefochten. Die katholische Kirche hat mit dem Trierer Bischof Stephan Ackermann schon seit 2010 einen gemeinsamen Missbrauchsbeauftragten. Allerdings legt die evangelische Kirche Wert auf enge Zusammenarbeit mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, und will von ihm Vorgaben zum Design ihrer Studien erbitten. Auch will die evangelische Kirche die Standards der Aufarbeitung zusammen mit Opfervertretungen entwickeln. Die katholischen Bischöfe zogen sich lange den Vorwurf der Eigenbrötelei zu, um die Deutungshoheit über den Missbrauch zu behalten. Noch im Herbst 2018 hielt Rörig den katholischen Bischöfen fehlende Kooperation vor. Die evangelische Kirche sagt, dass sie die Deutung von vornherein in unabhängige Hände legen will.

Kirsten Fehrs, Bischöfin der Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland
Bild: ©KNA/Matthias Greve

Kirsten Fehrs, Bischöfin der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland, beim Podiumsgespräch "Sterben in Würde" anlässlich der "Woche für das Leben" am 18. April 2015 in der Katholischen Akademie in Hamburg.

Doch auch im Protestantismus ist noch viel zu tun. Bisher hat zum Beispiel erst die Hälfte der Landeskirchen unabhängige Kommissionen zur Anerkennung erlittenen Leids und zur Hilfeleistung für Betroffene eingerichtet. Und nur aus diesen zehn Landeskirchen stammt die bisherige Gesamtzahl von 479 bearbeiteten Anträgen von Missbrauchsopfern, die die EKD angibt. Darin liegt ein Grund, warum sich noch gar nicht sagen lässt, ob in der evangelischen Kirche weniger Menschen sexuell missbraucht wurden als in der katholischen. Die Studie der katholischen Bischöfe hatte mindestens 1670 Täter ausgemacht. Beide gehen von einem großen Dunkelfeld aus.

Landeskirchen mit wenig Durchgriffsrechten auf Kirchengemeinden

"Die Sensibilität wächst", stellte ein Bericht fest, den Bischöfin Fehrs den 126 Synodalen der EKD auf ihrer Tagung in Würzburg vorlegte. Das lässt sich auch so lesen: Noch fehlt es an genug Aufmerksamkeit in den evangelischen Kirchen. Bisher, heißt es diplomatisch, seien Aufgaben, die aus gemeinsamen Absprachen der evangelischen Kirchen zur Missbrauchsbekämpfung hervorgingen, "mit unterschiedlicher Intensität aufgegriffen worden". Jetzt will sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), das organisatorische Dach über die 20 Landeskirchen, stärker einschalten und koordinieren. Die EKD richtet eine zentrale Ansprechstelle für Missbrauchsopfer ein. Diese stellt den Kontakt zur Stelle der zuständigen Landeskirche her, damit sich Betroffene nicht zuerst durch die Strukturen der evangelischen Kirchen durcharbeiten müssen.

Und es dauert, bis Verfahren zum Umgang mit Missbrauch, die die Landeskirche entwickelt haben, in jeder Kirchengemeinde angekommen sind. Anders als im hierarchischen System der katholischen Bistümer haben die Leitungen der 20 Landeskirchen wenig Durchgriffsrechte auf die Kirchengemeinden. Sie müssen viel Überzeugungsarbeit leisten. Die bayerische Landeskirche etwa will jetzt daran gehen, eine Meldepflicht in allen Kirchengemeinden zu etablieren, damit nicht Pfarrer oder Mitarbeiter geschont werden, weil man sich scheut, einen Täter anzuzeigen, den man gut kennt. In Bayern wurde ein geständiger Täter von befreundeten Vorgesetzten so mild behandelt, dass er nun nicht mehr härter bestraft werden kann und immer noch als stellvertretender Dekan amtiert.

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Unter evangelischen Kirchen ist aber unumstritten, dass sie mit Staatsanwaltschaften zusammenarbeiten. Erhebt jemand bei der jeweiligen zentralen Stelle einer Landeskirche Missbrauchsvorwürfe, dringen viele Landeskirchen, darunter Bayern, Hessen-Nassau und im Rheinland, auf Einschaltung der Staatsanwaltschaft. Bei Minderjährigen oder wenn zu befürchten steht, dass weitere Personen gefährdet sind, ist die Einschaltung sogar ein Muss. "Die Kirche unterliegt keinen Sonderrechten oder womöglich einer Sondergerichtsbarkeit, die die Täter der Strafgerichtsbarkeit entziehen würde", heißt es bei der EKD. Damit soll mit einer Praxis gebrochen werden: Auch evangelische Pfarrer waren, ähnlich wie ihre katholischen Kollegen, Respektspersonen, und ihre Position kann sie geschützt haben.

Angst um den Ruf der Kirche im Protestantismus schwächer

Natürlich findet Missbrauch in der evangelischen Kirche unter spezifischen Umständen statt. Im Pfarrhaus lebt meist eine Familie. Missbrauch ist auch dort vorgekommen. Aber er lässt sich nicht so leicht geheim halten. Und Protestanten sind kritischer gegenüber ihrer Kirchenorganisation. Im Katholizismus hat die Angst, dass "etwas auf die Kirche kommt", den Druck auf Opfer erhöht und Mitwissern den Mund verschlossen. Sie ist im Protestantismus ebenfalls vorhanden, aber schwächer.

Es heißt auch, in der evangelischen Kirche sei Missbrauch schwerer zu vertuschen. Ein katholischer Bischof ist Dienstherr aller Priester und kann sie einfach versetzen, wenn sie sich an Heranwachsenden vergehen. Bei der Anstellung und Abberufung evangelischer Gemeindepfarrer bestimmen Kirchengemeinden mit. Nur bei Gefängnis-, Krankenhaus- und Polizeiseelsorgern oder Pfarrern in der Verwaltung haben Kirchenleitungen mehr Spielraum. Aber die Größenordnung bleibt ohne umfassende Untersuchung im Dunkeln.

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Der Protestantismus hat sich überdies der Reformpädagogik geöffnet mit ihrem lockeren Verhältnis zur Sexualität. Der pädophile langjährige Leiter der 2015 geschlossenen Odenwaldschule, Gerold Becker, gehörte 1988, als die ersten Vorwürfe gegen ihn laut wurden, zur Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Bildung und Erziehung und zu ihrer Arbeitsgruppe "Konfirmandenarbeit". Sein Freund Hartmut von Hentig, der ihn lange verteidigte, war in der evangelischen Kirche hoch angesehen. Die evangelische Kirche müsste also bei einer Untersuchung auch Mitarbeiter für die Jugend einbeziehen, auch die ehrenamtlichen. Das ist besonders schwer, denn über sie gibt es keine Personalakten.

Auf dem Weg, aber mit Fragen

Die evangelische Kirche ist also auf dem Weg, aber mit Fragen. Bischöfin Fehrs hat sich mit einer engagierten, gefühlvollen und entschlossenen Rede vor der Synode profiliert, mit Wut und mit Empathie. Beobachter meinten, damit habe sie sich als Nachfolgerin des EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, empfohlen. Aber sie sagte auch: "Manchmal hat es mich an Grenzen gebracht, den betroffenen Menschen zuzuhören." Das glich den schwierigen Aussagen katholischer Bischöfe, Missbrauch verletze die Kirche. Solche Äußerungen rücken die Vertreter der Täterorganisation auf die Opferseite. Sie überschreiten Grenzen.

Die Synodalen quittierten die Rede der Bischöfin mit stehendem Applaus. Selbst ein Vertreter der digitalen Kommunikation der evangelischen Kirche twitterte: "Ich finde es befremdlich, wenn die EKD-Synode nach dem Bericht von Kirsten Fehrs stehend applaudiert. Wem denn? Der Performance der Bischöfin? Der mangelnden Aufarbeitung? Angemessen wäre, erstmal in Scham zu schweigen. Unwürdig." Erst am Ende der zweistündigen Behandlung des Missbrauchsthemas legten sie eine Schweigeminute für die Opfer ein.

Von Wolfgang Thielmann