Maria-Luise Thurmair: Im Anfang war ihr Wort
"Ohne 'Der Geist des Herrn erfüllt das All' ist nicht Pfingsten." Solche Nachrichten bekommt Veronika Obermayer bis heute. Die Kirchenlieder, die ihre Mutter Maria-Luise Thurmair geschaffen hat, haben eine richtige Fan-Gemeinde. Dass diese Lieder auf Deutsch sind, erscheint vielen dabei als ganz selbstverständlich. Doch das war nicht immer so. "Wir waren Pfarreiflüchtlinge", erinnert sich Tochter Veronika. Sonntagmorgens stiegen Vater Georg, Mutter Maria-Luise und die sechs Kinder ins Auto und fuhren durch halb München zur Kirche. Warum? Weil der Priester dort auf Deutsch zelebrierte und die Gemeinde deutsche Kirchenlieder sang. Dabei waren Gottesdienste in der Landessprache verboten. Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde auf Latein gesungen und gebetet. Es gab aber zwei Ausnahmen, erzählt Obermayer: "Die Oratorianer hielten die Messe auf Deutsch und noch ein Pfarrer, der mit dem Guardini befreundet war". Romano Guardini war ein Theologe und Religionsphilosoph, der schon früh neue liturgische Formen - wie die Osternacht - erprobte. Georg und Maria-Luise Thurmair, legten großen Wert darauf, die deutsche Messe zu besuchen. Beide waren tief geprägt von der Liturgischen Bewegung, sie setzten sich für eine aktive Teilnahme der Gemeinde am Gottesdienst ein.
Die Liturgiekonstitution des Konzils brachte dann die ersehnte Wende: "Es ist in Erfüllung gegangen, worauf Vater und Mutter hingearbeitet haben. Für sie war es eher eine Ernte als ein Umbruch", sagt Obermayer. Endlich war der Gebrauch der Muttersprache in den Gottesdiensten erlaubt. Anderswo revoltierte der Kirchenchor, "weil sie keine lateinischen Lieder mehr singen durften, stattdessen so blöde deutsche Sachen". Viele dieser "blöden" Lieder hatte das Ehepaar Thurmair gedichtet. Und noch viele, viele mehr würde vor allem Maria-Luise dichten.
Von Bozen nach Innsbruck
Geboren wurde Maria-Luise Thurmair-Mumelter am 27. September 1912 als zweites von vier Kindern. Ihr Vater war österreichischer Bezirkshauptmann von Bozen in Südtirol. Als die Region nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von Italien annektiert wurde, quittierte der Vater den Dienst. Fortan setzte er sich für die deutschsprachige Bevölkerung ein. Aufgrund der nationalistischen Spannungen im faschistischen Italien musste die Familie das Land 1926 notgedrungen verlassen. Die Mumelters zogen nach Innsbruck. "Finanziell ging es daheim natürlich knapp zu, und ich sehe meine Mutter an der Nähmaschine endlos Kleider trennen, verlängern, anpassen und wenden. Taschengeld war ein Fremdwort für uns", schreibt Maria-Luise in ihren Lebenserinnerungen. Nichtsdestotrotz investierten die Eltern in die Bildung ihrer Kinder.
Nach dem Abitur 1932 schrieb sich Maria-Luise an der Universität Innsbruck für die Fächer Germanistik und Geschichte ein. Die junge Frau hörte aber auch Vorlesungen in Kunstgeschichte und Theologie. Ihre gläubige Mutter war eine der ersten Besitzerinnen des 'Schott' gewesen. Dieses lateinisch-deutsche Messbuch erlaubte der Gemeinde die bewusstere Mitfeier der Heiligen Messe. Insgesamt stand man im Elternhaus dem Engagement der Laien am kirchlichen Leben sehr aufgeschlossen gegenüber. Während der Studienzeit knüpfte Maria-Luise dann Kontakte zur Bündischen Jugend. Ähnlich wie die Wandervögel oder Pfadfinder organisierten sich christliche Jugendliche und junge Erwachsene in eigenen Jugendverbänden, den Bünden. Maria-Luise unternahm mit ihrer Gruppe Fahrten und Wanderungen, gestaltete wöchentliche Abende und Singwochen. Der Austausch über religiöse Themen mit den Gruppenmitgliedern und begleitenden Geistlichen prägte sie sehr. 1936 promovierte sie über Irene von Byzanz, die Frau des römisch-deutschen Königs Philipp von Schwaben. Wenig später trat Maria-Luise eine Stelle bei der Katholischen Aktion in Wien an und veröffentlichte in den Zeitschriften dieser internationalen Laienbewegung ihre ersten Gedichte.
Katholisch sein im Krieg
Mit dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich 1938 wurden alle katholischen Verbände verboten. Maria-Luise verlor ihre Arbeit und kehrte nach Innsbruck zurück. Doch ihre Lieder und Gedichte hatte man in Deutschland bereits gelesen. Einer dieser Leser war Georg Thurmair, die wohl wichtigste Stimme der katholischen Jugend der Zeit. Im Sommer 1940 erhielt Maria-Luise einen Brief von ihm. Ob sie für ein geplantes Weihnachtssingebuch wohl einige Lieder dichten könnte? "Überwältigt von Freude und Stolz machte ich mich sofort ans Werk", im Gegenzug lud die junge Frau ihn zu einem Leseabend nach Innsbruck ein. Georg sagte zu und reiste im Sommer 1940 aus München an. Offiziell waren alle religiösen Zusammenkünfte, abgesehen von Gottesdiensten, verboten. Deshalb trafen sich Georg und Maria-Luise im Museum Ferdinandeum. Der Museumsdiener spielte den Kontaktmann und meldete ihn ihr mit den Worten "eahnerer Gelübter isch draußen". Das kam Maria-Luise so abwegig vor, dass sie laut loslachte. Wenige Wochen später machte Georg ihr einen Heiratsantrag. Als Maria-Luise zögerte, legte er ihr "mit großer Überzeugungskraft dar, dass für beide die dichterische Verkündigung des Wortes eine echte Berufung" sei, wie sie in ihren Memoiren schreibt. Mitten im Krieg, im Dezember 1941, fand die Hochzeit statt. Nach drei Tagen musste Georg wieder an die Front.
Das katholische deutsche Kirchenlied wurzelt in der Liturgischen Bewegung. Ihre Anhänger wollten erreichen, was für evangelische Christen seit Luthers Zeiten normal war: Die Einbindung der Laien in die Messfeier - auch durch Lieder in der Muttersprache. Das offizielle Latein der Messe wurde als Distanz zwischen Geistlichkeit und Gemeinde wahrgenommen. Doch am Lob Gottes sollten alle Gläubigen teilhaben können. In den Jugendverbänden wurde oft und ausgiebig gesungen. Nach Jahrhunderten lateinischer Liedtradition gab es aber kaum religiöse Lieder auf Deutsch. Im evangelischen Kirchenlied war es weit verbreitet, auf eine alte Melodie neue Liedtexte zu dichten. So existieren heute fünf oder sechs verschiedene Texte auf eine Melodie. "Die deutsche Sprache ist im evangelischen Kirchenlied fest verwurzelt und hat einen ganz hohen Stellenwert. Im katholischen Bereich musste das erst langsam wachsen. Und warum sollte man da nicht auf diese Tradition zurückgreifen? Meine Eltern hatten keinerlei Berührungsängste was das Evangelische angeht. Im Gegenteil, dieser ökumenische Aspekt war ihnen sehr wichtig", sagt Obermayer. "Die Melodie des evangelischen Kirchenliedes ist ja sehr eingängig und schlicht und qualitätvoll. Das berühmte Lied 'Den Herrn will ich loben', das meine Mutter gedichtet hat, beruht auf der Melodie des evangelischen Liedes 'Valet will ich dir geben'." Ausgangspunkt für die katholischen Lieder waren also die vorhandenen evangelischen Melodien, auf die Maria-Luise und Georg neue Texte dichteten.
Geschwister im Glauben
Gab es um Kirchenlieder und Gottesdienste in deutscher Sprache vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil noch heftige Konflikte, änderte sich das mit der Liturgiereform. Sie ebnete den Weg für ein gemeinsames Liederbuch aller deutschsprachigen Katholiken, das 'Gotteslob'. Zwei Kommissionen, eine für die Texte und eine für die Musik, sollten entscheiden, was in deutschen, österreichischen und schweizerischen Gemeinden von nun an gesungen werden würde. Die Treffen dazu fanden in der Schweiz und Österreich statt, damit die Christen aus der DDR daran teilnehmen konnten. Maria-Luise Thurmair wurde für die Textkommission angefragt. "Also mein Vater wurde natürlich auch angefragt, aber er war kein Typ für Kommissionen. Er war viel zu ungeduldig", sagt Obermayer. Ganz im Gegenteil zu ihrer Mutter, die ein angenehmes Kommissionsmitglied gewesen sei: sehr bescheiden, kommunikativ und freundlich. "Sie war auch nicht so stolz und hätte gesagt: 'Nein, an meinem Werk wird nichts gemacht!'" Sofern Änderungen an ihren Texten gewünscht waren, hat sie diese auch vorgenommen.
Auch in späteren Jahren scheute sie sich nicht ihre Lieder umzudichten. Sogar ihr Lieblingslied änderte sie. Als 'Dank sei dir Vater für das ew'ge Leben' ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen werden sollte, bat man sie eine Zeile zu modifizieren. In der dritten Strophe hieß es: "sind deines Leibes Glieder, und deine Brüder". In den Texten von Georg und Maria-Luise war bisher ganz selbstverständlich von 'Brüdern' die Rede, nicht aber von 'Schwestern' oder 'Geschwistern'. Mit der Bitte der Protestanten begann es: Die Dichterin und ihre älteste Tochter Veronika setzten sich hin und bearbeiteten alle Thurmair-Lieder. "Wir wollten Formulierungen finden und die von uns aus schon vorschlagen", erinnert sich Obermayer. "Denn in vielen Liederbüchern steckten damals schon kleine Notizzettel mit Ersatzformulierungen darauf, um die 'Brüder' auszumerzen. Aber das war dichterisch nicht immer gelungen. Auf diese Weise wurden dann alle Lieder 'gegendert'", erzählt Obermayer und lacht. Im Evangelischen Gesangbuch fände man nicht viele Lieder der Thurmairs, 'Dank sei dem Vater' sei aber drin. Von Anfang an mit 'Schwestern und Brüder'. Die Neuauflage des Gotteslobes hat die Änderungen dann auch übernommen.
K_mm herab, _ Heil'ger Geist
Insgesamt habe die Textkommission recht harmonisch gearbeitet. Ganz anders die Musikkommission. "Das war so eine Geschichte mit ausgefahrenen Ellenbogen. Da fanden Hahnenkämpfe statt", sagt Obermayer. Da habe jeder der Komponisten geschaut, dass seine Lieder durchkamen. Weil so viele ihrer Lieder ins Gotteslob aufgenommen wurden, warf man Maria-Luise aber genau dieses Ellenbogenausfahren auch vor. "Aber das passt nicht zu ihrem Typ. Sie hat einfach viele Aufträge gekriegt nach dem Motto 'Da brauchen wir noch ein Lied und da auch und dazu brauchen wir noch neue Strophen'." Die Mutter habe sich dann eben an ihre Schreibmaschine gesetzt und gedichtet, übersetzt und geschrieben. Neun Jahre sollten die beiden Kommissionen tagen, bis 1975 das 'Gotteslob' erscheinen konnte. Am Ende kam ihr Mann auf 21 Lieder im Stammteil und sie auf ganze 44. In der Neuauflage des Gotteslobes von 2013 sind von ihm noch 11, von ihr immerhin noch 25 Lieder enthalten. Die Regionalteile können stark davon abweichen, in den Bamberger und Augsburger Anhängen findet man noch die meisten Thurmair-Lieder.
Wie wurde also im Hause Thurmair gedichtet? "Mein Vater hatte ein Arbeitszimmer, darin war auch ein Sofa für den Mittagsschlaf. Hier saß er am Schreibtisch und hat geraucht wie ein Schlot. So viel, dass die Tasten der Schreibmaschine gelb wurden. Das Arbeitszimmer war sein Reich. Die Mutter war natürlich bescheidener, wie sich das gehörte. Sie hatte einen Schreibtisch im gemeinsamen Schlafzimmer. So haben dann beide wild auf die Schreibmaschinen eingehämmert. Es wurde viel ausge-x-t und bei schlechten Schreibmaschinen fiel bald das 'O' ab. Mein Vater hat natürlich mehr geschrieben, weil er ja Redakteur bei der 'Münchener Kirchenzeitung' war. Mutter hat Lieder und Liedaufträge bearbeitet, das war meistens abends."
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Vieles, was heute in der Kirche als selbstverständlich gilt, ist eine Folge der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965). Ein Blick zurück auf die wegweisende Versammlung und ihre wichtigsten Beschlüsse.Die Kinder hatten dabei immer das Gefühl, dass die Mutter nur zum Teil berufstätig war, sie dichtete 'familienverträglich'. Musik spielte nicht nur bei der dichterischen Arbeit, sondern auch Zuhause im Privaten eine große Rolle. Die Eltern hätten großzügig Musikunterricht für alle sechs Kinder bezahlt. "Wir haben viel gesungen, sehr viel gesungen. Und an Weihnachten gab es den Familienchor - also den gibt es natürlich immer noch. Dann kommen meine Geschwister, meine vier erwachsenen Kinder, die auch alle vier Musiker geworden sind, und die Enkel und da wird dann vier- bis sechsstimmig gesungen - ganz edel", sagt Obermayer und lacht wieder. Das Singen sei bei ihnen eine ganz große Tradition. Früher hätten sie auch nicht nur an Festtagen gesungen, nicht nur religiöse Lieder, sondern alles, vor allem die Alpenlieder, die die Mutter so liebte.
Ziemlich spät sei dann auch noch sie selbst zur Kirchenmusikerin geworden, verrät Obermayer: "Als hier in der Pfarrei die alte Organistin in den Ruhestand ging hat man mich angefragt. Ich war zwar gut in Musik, aber ich konnte gar keine Orgel spielen. Also habe ich das mit vierzig noch gelernt". Die Mutter Maria-Luise sei mit 80 Jahren in ihre Gemeinde gezogen und noch Kommunionshelferin und Lektorin gewesen. Hin und wieder hätte sie sogar gepredigt. Denn der Pfarrer der Gemeinde sei einer von der "alten Schule". Wobei heutzutage ja "alte Schule" bedeute, dass ein Geistlicher fortschrittlich und ganz vom Konzil geprägt sei. In den Messen "saß ich also an der Orgel und habe die Lieder meiner Mutter gespielt, während sie in der Gemeinde saß und mitsang. Sie hat bis ins hohe Alter eine gute, schöne Stimme gehabt. Sie war eine tolle Lektorin."
Klassiker und Ohrwürmer
Noch mit über 80 Jahren war Maria-Luise Thurmair-Mumelter ein fortschrittlicher Geist. In einem Pfarrbrief ihrer Gemeinde "hat sich ganz klar für's Frauenpriestertum ausgesprochen. Sie schloss mit den Worten: 'Leider werde ich das nicht mehr erleben'". In diesen Dingen hätte sie klar Position bezogen. Wie vielen anderen aus der Liturgischen Bewegung sei es ihr einfach unverständlich gewesen, wie man die Hälfte der Menschheit auf einen niederen Rang verweisen konnte. Damit sei für sie auch die Infragestellung des Zölibats verbunden gewesen. "Es war nicht ihre Art so kämpferisch aufzutreten wie die Uta Ranke Heinemann. Sie war in allem fortschrittlich und freundlich, das war ihr Typ".
Es habe zeitlebens natürlich auch kritische Stimmen gegeben, so Obermayer. Dass sie Gebrauchslyrik dichte, dass sie 'Sohn' auf 'Thron' reime und wer sage heute noch 'Thron'. Die Lieder der Mutter seien vielleicht auch keine große Dichtung, aber im Gottesdienst gehe es ja nicht darum, sich künstlerisch zu präsentieren. Die Gemeinde zum Singen zu bringen, das war Maria-Luises Auftrag. Die Lieder seien das, was die Gemeinde zum Gottesdienst beitrage. Und da brauche es eben Lieder, die eingängig und vor allem singbar seien. Und aller Kritik zum Trotz: Die Lieder von Maria Luise Thurmair werden gesungen. Sie sind mit der Zeit zu echten Klassikern geworden: "Und wenn man dann mit einem Ohrwurm aus der Kirche geht, dann denke ich mir: Das ist hinuntergesunken ins Herz." Maria-Luise Thurmair-Mumelter starb am 24. Oktober 2005, sie wurde 93 Jahre alt. Bei ihrer Beerdigung gab es weder Kirchenchor noch Orgel, die Gemeinde sang einfach ihre Lieder.