Kann die Kirche in moralischen Fragen dazulernen?
Papst Franziskus betont in seinem nachsynodalen Schreiben von 2016, Amoris laetitia, dass Gott das "frohe Genießen des Menschen" liebe (AL 149). Deshalb dürfe man "die erotische Dimension der Liebe keineswegs als ein geduldetes Übel oder als eine Last" verstehen, sondern müsse sie als ein "Geschenk Gottes" betrachten (AL 152). Dies steht durchaus in einer gewissen Spannung zu Aussagen aus dem Katechismus der Katholischen Kirche von 1992, wo in Nr. 2351 der Genuss der geschlechtlichen Lust als "ungeordnet" und damit "unkeusch" angesehen wird, "wenn sie um ihrer selbst willen angestrebt" wird. Man erkennt daran, dass die Kirche in diesem Punkt offenbar etwas dazugelernt hat und die Sexualität und die sie begleitende Lust offensichtlich inzwischen positiver beurteilt.
Nimmt man außerdem ernst, dass die Sexualität eben nicht nur die Funktion der Fortpflanzung hat, sondern "zwischenmenschliche Sprache", "Ausdruck der Liebe" ist, in der sich Menschen "in Ehrfurcht" begegnen (AL 151), dann muss man doch auch darüber nachdenken, ob das nicht auch unter gleichgeschlechtlichen, sich liebenden Partnern möglich sein sollte. Auch für sie, die ja ohne ihre Entscheidung, sondern von ihrer Natur aus, homosexuell sind, kann doch Sexualität Ausdruck ihrer Liebe zueinander sein.
Lernfortschritte hat es immer wieder gegeben
In der Exegese ist es jedenfalls ein breiter Konsens, dass die gegen Homosexualität angeführten Bibelstellen (Gen 19, 1-29; Röm 1,24-27; 1 Kor 6,10; 1 Tim 1,10) ein solches Verbot nicht rechtfertigen können. Das war ja auch der Hinweis, den Pater Ansgar Wucherpfennig gegeben hatte, weshalb ihm zunächst das "Nihil obstat" als Rektor der Theologischen Hochschule St. Georgen verweigert worden war. Heute sind die meisten Katholiken, die meisten Theologen und mehr und mehr Bischöfe in Deutschland (auch wenn sie es noch nicht zu laut sagen) zu der Überzeugung gekommen, dass homosexuelle Handlungen, jedenfalls dann, wenn sie Ausdruck einer Liebesbeziehung sind, in der die Partner füreinander Verantwortung übernehmen, nicht etwas sind, das generell "in sich nicht in Ordnung" ist (wie der Katechismus dies in Nr. 2357 behauptet). In jedem Fall muss man doch offen darüber diskutieren dürfen, ob hier nicht ein Lernfortschritt in der kirchlichen Sexuallehre notwendig ist.
Solche Lernfortschritte hat es übrigens in der Geschichte immer wieder gegeben. Jüngstes Beispiel ist die moralische Verurteilung der Todesstrafe, die in der früheren kirchlichen Tradition bis zum Katechismus von 1992 fast durchgängig als legitim angesehen worden war. Wir brauchen aber auch nur den "Syllabus errorum" von 1864 mit seinen Verurteilungen nachzulesen, um zu der Einsicht zu gelangen, dass die Kirche seither – Gott sei Dank! – erheblich dazugelernt hat. Sonst würde sie noch heute Presse- und Meinungsfreiheit verurteilen, weiterhin den Anspruch erheben, die katholische Religion müsse Staatsreligion sein, und behaupten, außerhalb der römisch-katholischen Kirche gebe es kein Heil. Aus heutiger Sicht ist der Syllabus errorum keine Liste von Zeitirrtümern, sondern zu großen Teilen eine Liste von Irrtümern, denen die Kirche damals unterlegen ist und die sie inzwischen korrigiert hat.
Die heute selbstverständlich zur kirchlichen Sozialverkündigung gehörenden Menschenrechte wurden erst von Johannes XXIII. in "Pacem in terris" (1963) anerkannt. Besonders deutlich ist der Fortschritt beim Recht auf Religionsfreiheit, das durch die Konzilserklärung "Dignitatis humane" erst 1965 kirchlicherseits akzeptiert wurde. In all diesen Prozessen hat die Kirche moralische Lernprozesse der Gesellschaften, in denen sie lebt, mit einem gewissen Zeitverzug nachvollzogen. Niemand würde darin heute eine ungerechtfertigte Anpassung an den Zeitgeist sehen, auch wenn viele Zeitgenossen damals solch einen Vorwurf durchaus erhoben haben. Nichts spricht gegen die Annahme, dass solche Nachvollzüge moralischer Lernprozesse auch in Zukunft stattfinden werden – und der innerkirchliche Konsens ist groß, dass dies gerade in Fragen der Sexualmoral dringend geboten ist.
Würde sich die Kirche dem verweigern, könnte sie nicht mehr behaupten, "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art", seien "auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi". Sie würde jede Relevanz verlieren und könnte ihrem Auftrag der Evangelisierung nicht mehr gerecht werden.
Theologische Wissenschaft nicht überflüssig machen
Die Kirche des Konzils war sich dessen offenbar noch deutlicher bewusst. So schrieben die Konzilsväter damals, "die Kirche" sei sich "auch darüber im Klaren, wieviel sie selbst der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt. Die Erfahrung der geschichtlichen Vergangenheit, der Fortschritt der Wissenschaften, die Reichtümer, die in den verschiedenen Formen der menschlichen Kultur liegen, durch die die Menschennatur immer klarer zur Erscheinung kommt und neue Wege zur Wahrheit aufgetan werden, gereichen auch der Kirche zum Vorteil. Von Beginn ihrer Geschichte an hat sie gelernt, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der verschiedenen Völker auszusagen und darüber hinaus diese Botschaft mit Hilfe der Weisheit der Philosophen zu verdeutlichen, um so das Evangelium sowohl dem Verständnis aller als auch berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen zu verkünden. Diese in diesem Sinne angepasste Verkündigung des geoffenbarten Wortes muss ein Gesetz aller Evangelisation bleiben." (GS 44)
Es gibt derzeit wichtige Gruppen und Personen in der Kirche, die solche Lernprozesse verhindern wollen und sich damit gegen den "Sensus fidelium", gegen Papst Franziskus und letztlich gegen den Auftrag Jesu stellen. Zu ihnen zählt offenbar Nuntius Nikola Eterovic, wenn er verlangt, katholische Professoren "müssen sich danach richten, was die Kirchenlehre sagt, und die ist zum Beispiel nachzulesen im Katechismus". Damit macht er nicht nur alle theologische Wissenschaft überflüssig, sondern tut auch so, als sei der Katechismus von 1992, der auch damals schon innerhalb der Kirche durchaus umstritten war, das unumstößliche Wort Gottes. Nach der Konzilskonstitution "Dei verbum" ist aber Jesus Christus das Wort, in dem sich Gott geoffenbart hat. Deshalb ist es möglich und notwendig, dass "das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen" wächst (DV 8).
Auch die jüngsten Äußerungen von Kardinal Gerhard Ludwig Müller sind unerträglich. Und wenn ich das so schreibe, leitet mich kein "besinnungsloser Zorn" – mit diesen Worten hatte Kardinal Müller eine ähnliche Kritik von Pater Klaus Mertes quittiert. Dadurch, dass der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation sagt, die Causa Wucherpfennig zeige das Vordringen des Atheismus in der Kirche, spricht er all jenen, die aus guten Gründen und motiviert durch ihren Glauben für Reformen in der Kirche und kirchlicher Lehre eintreten, den Glauben ab und drängt sie aus der Kirche hinaus – und das, ohne auf Argumente zur Sache selbst überhaupt einzugehen. Das ist nichts Anderes als Dialogverweigerung und Behinderung dringend notwendiger Lernprozesse.
Die hinter Kardinal Müllers Behauptung liegende Vorstellung, dass allein der Glaube an Gott moralische Normen begründe und dies zu unhinterfragbaren Positionen führe, widerspricht auch großen Teilen der katholischen Denktradition und weit älteren philosophischen Einsichten. Seit Platons Dialogs Euthyphron wissen wir, dass eine moralische Norm nicht deshalb richtig ist, weil Gott sie will, sondern dass Gott sie will, weil sie moralisch richtig ist und dies aus Vernunft erkannt werden kann.
Kardinal Müller degradiert Gott zum Mittel zum Zweck
Alles andere würde ja dazu führen, dass man sich erst über die richtigen religiösen Offenbarungstexte und Autoritäten einigen müsste, bevor man zu einer für das menschliche Zusammenleben nötigen gemeinsamen Moral kommen könnte. Dies ist eine völlig unrealistische Vorstellung, die dem religiösen Integralismus und Fundamentalismus Tür und Tor öffnen würde und für das Zusammenleben pluralistischer Gesellschaften äußerst schädlich wäre. Wir Christen haben kein Monopol auf die Erkenntnis dessen, was moralisch richtig ist. Vielmehr müssen sich auch Christen dem Dialog über moralisch strittige Fragen öffnen und dürfen sich moralischen Lernprozessen nicht verweigern, die gerade auch außerhalb der Kirche stattfinden.
Wenn man schon mit Atheismus-Vorwürfen operieren wollte, dann müsste sich der Vorwurf vielmehr gegen Kardinal Müller selbst richten. Denn er ist es, der Gott degradiert zum Mittel zum Zwecke der Rechtfertigung einer fundamentalistischen Ideologie und einer für absolut erklärten Machtposition bestimmter kirchlicher Autoritäten und Institutionen, die sich aber nicht einmal mehr auf die Autorität des Papstes stützen können. Eine solche Funktionalisierung Gottes entspricht aber ganz und gar nicht der befreienden Reich-Gottes-Botschaft Jesu.
Diejenigen, die in der Kirche und aus grundsätzlicher Loyalität zu ihr notwendige Reformen fordern, dürfen den Anspruch auf Rechtgläubigkeit nicht mehr länger denjenigen überlassen, die nichts verändern und dringend notwendige Fortschritte blockieren wollen. Nicht letztere stehen in der lebendigen Tradition der Kirche, sondern jene, die wissen, dass man sich zu jeder Zeit neu und ohne Ängste auf neue Herausforderungen einlassen und in ihnen nach dem moralisch Richtigen suchen muss. Wer sich dem verweigert, schadet der Kirche!