Zeitreise mit dem "Löwen von Münster"
Die Weßelers sind eine ganz normale Familie – Vater, Mutter und drei erwachsene Kinder. Sie führen ein von der Routine des Alltags geprägtes Leben in der westfälischen Kleinstadt Emsdetten, 30 Kilometer nördlich von Münster. Doch an einem ganz gewöhnlichen Samstag erleben die Weßelers etwas ganz und gar Außergewöhnliches: Sie machen eine Zeitreise. Als die fünfköpfige Familie gemeinsam mit dem Freund einer der Töchter einen kleinen, schummrig beleuchteten Raum betritt, befindet sich die Gruppe innerhalb eines Augenblicks im Jahr 1941. Die gesamte Einrichtung des Zimmers, mit den Möbeln, Büchern und Wandbildern aus den 30er-Jahren, lässt daran nicht den geringsten Zweifel zu.
Der Grund für die Reise der Weßelers durch Raum und Zeit ist eine lebensgefährliche Mission: Sie müssen das Leben eines Manns retten, der die Nazi-kritischen Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen verbreitet hat. Die Gestapo hat ihn bereits festgenommen und ist gerade auf dem Weg in seine Wohnung, wo sie Beweise, die Abschriften der Predigten, vermutet. Doch die Weßelers wollen ihnen zuvor kommen, deshalb durchsuchen sie nun hektisch das Zimmer des mutigen Pfadfinder-Gruppenleiters. Es ist wie in einem Abenteuer-Film: Sie stoßen immer wieder auf Rätsel, die gelöst werden müssen. Den Weßelers ist anzumerken, wie sehr sie die Spannung genießen, trotz der drohenden Gefahr – oder vielleicht gerade wegen ihr.
Die ganze Familie ist mit Haut und Haaren im Jahr 1941 angekommen: Elisabeth und Ulrich, die Eltern, notieren die Ergebnisse der Knobeleien auf einer kleinen Schiefertafel – etwas ungelenk, denn normalerweise benutzen sie die Tastatur eines Computers, um ihre Gedanken festzuhalten. Ihre Kinder Katrin und Maik, sonst eher an Spotify gewöhnt, werkeln an einem alten Volksempfänger herum, um ihn zum Laufen zu bringen. Währenddessen versuchen Tochter Mona und ihr Freund Simon anstatt mit einem Beamer nun mit Hilfe eines kleinen Projektors Dias an die Wand zu werfen. Doch die Familie steht unter Druck: Sie wissen, dass sie nur eine Stunde Zeit haben, bis die Nazi-Schergen in der Wohnung sein werden. Sie kommen ins Schwitzen.
"Dazu gibt es eigentlich keinen Grund", sagt Matthias Hecking überlegen. Ein kurzes Lächeln huscht über sein ansonsten konzentriertes Gesicht. "Die Weßelers liegen gut in der Zeit, sie sind gleich fertig", sagt der 36-Jährige mit den akkurat geschnittenen schwarzen Haaren und der randlosen Brille. Hecking muss es wissen, denn er hat die Weßelers die letzte halbe Stunde nahezu unbeachtet beobachtet. Der 36-Jährige sitzt keine fünf Meter entfernt von ihnen im Nebenraum vor mehreren Bildschirmen und schaut zu, wie seine Zeitreisenden im Jahr 1941 ihre Aufgaben meistern.
"Wir wollten etwas machen, auf das wir Bock haben"
Mit einer Webcam beobachtet Hecking die Weßelers auf Schritt und Tritt. An seine Rolle als "Big Brother" musste sich der Wirtschaftsingenieur erst gewöhnen. Im Oktober machte er sich mit Winfried Hachmann, einem Freund aus Kindertagen im heimischen Sauerland, als Betreiber eines Escape Rooms selbstständig. "Die Idee ist vor einem halben Jahr beim Bier entstanden", gibt Hachmann lachend zu. Beide befanden sich in einer Situation des Umbruchs: Hecking hatte seinen Job in Frankfurt gekündigt und war ein halbes Jahr quer durch Europa nach Santiago de Compostela gepilgert. Hachmann war kurz zuvor Vater geworden. "Wir wollten etwas machen, auf das wir Bock haben", erklärt Hachmann die Begeisterung für die neue Aufgabe. Der Lehrer für Religion und Geschichte hebt sich nicht nur durch sein Äußeres von Hecking ab: Neben seinen langen, zum Zopf gebundenen Haaren und dem schwarzen Kapuzenpulli zeichnet ihn sein handwerkliches Geschick aus. "Wir ergänzen uns sehr gut", sagt Hachmann daher über seine Zusammenarbeit mit Hecking, der sich eher auf die Konzeption des Spiels konzentriert hat.
Auf dem Display seines Tablets markiert Hecking, welche Hinweise die Weßelers schon gefunden und welche Rätsel sie schon geknackt haben. Der schematische Ablaufplan veranschaulicht aber auch, welche Herausforderungen noch vor der Familie liegen. Der Computer-Bildschirm direkt darüber zeigt über die Webcam das Geschehen im Jahr 1941: Die Eltern durchsuchen gemeinsam mit ihren Kindern jede Ecke des eigens für das Spiel eingerichteten Raumes. Ihnen ist bewusst, dass die Zeit drängt. Auf dem perfekt gebügelten Oberhemd des Familienvaters zeigen sich erste Schweißflecken, die Mutter durchwühlt einen Sekretär, die Kinder spornen sich gegenseitig an, den nächsten Hinweis zu finden. "Vielleicht sollte ich ihnen kurz helfen", überlegt Hecking laut. Er könnte auf einem umgebauten Original-Telefon aus dem Jahr 1938 im Raum anrufen und als "Nachbar Paul" einen kleinen Tipp geben. Doch Hachmann widerspricht: "Lass mal, sie schaffen das schon!" Hecking stimmt ihm letztlich zu, denn beide wollen ihren Zeitreisenden eine gute Erfahrung, ein ausgewogenes Abenteuer bieten. Deshalb ringen sie um die richtige Balance zwischen Spielspaß und Hilfe.
In den vergangenen Monaten konnten die beiden viel Erfahrung sammeln. "Manchmal haben wir acht bis neun Gruppen am Tag hier", erzählen Hecking und Hachmann. Wegen der großen Nachfrage gibt es zwei Räume, in denen gleichzeitig gespielt werden kann – beide sind zum Verwechseln ähnlich eingerichtet. "Wir haben großen Wert auf eine genaue Einrichtung gelegt: Es gibt bei uns kein Buch, das nicht in die Zeit passt", sagt Hachmann stolz. Doch zwei gleichzeitige Spiele sind für die Spielleiter sehr anstrengend. "Man muss seine Augen überall haben", betonen sie.
Mit dem "Löwen von Münster" in die Geschichte eintauchen
Wie auch die Weßelers waren die wenigsten, die zu den beiden kommen, schon einmal in einem Escape Room. Dabei gewinnt dieses Abenteuer-Spiel seit Jahren immer mehr Anhänger. Ihren Ursprung haben Escape Rooms in Computerspielen, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren: Man muss in einer bestimmten Zeit eine Reihe von Rätseln lösen, um einen Raum verlassen zu können, in den man eingeschlossen wurde. Entwickelt wurden Escape Rooms für die reale Welt erstmals 2007 in Japan. Seitdem feiern diese einstündigen Abenteuer-Ausflüge einen weltweiten Siegeszug, besonders in Industrienationen wie Deutschland. Aktuell gibt es Escape Rooms in 94 deutschen Städten, mit insgesamt 552 Szenarien.
Hecking und Hachmann haben ihr erstes Szenario "Der Löwe von Münster" getauft. Die Idee dazu kam ihnen kurz vor den Sommerferien auf Anregung von Hachmanns Schwager Markus. Der Pastoralreferent im Bistum Münster arbeitet als Schulseelsorger in Emsdetten. Deshalb sind sie seit einigen Wochen dort im Pfarrheim der Kirchengemeinde St. Pankratius zu Gast. Viele der Gruppen kommen aus den Schulen der Stadt, andere aus der Pfarrei. So auch die Weßelers, die in der Kirchengemeinde fest verwurzelt sind. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, sich in der Kirche zu engagieren – und das schon seit Generationen. Ihre Zeitreise in das Jahr 1941 ist für sie auch ein Ausflug in die Familiengeschichte: Eine Tante von Elisabeth Weßeler half einst selbst dabei, die Predigten von Bischof von Galen im Geheimen zu verteilen, was die Heilpraktikerin ihren Kindern mit stolz geschwellter Brust in Erinnerung ruft. Diese ziehen es jedoch vor, nach dem nächsten Hinweis auf das Geheimversteck der Predigten zu suchen. Sie sind ganz in die Geschichte eingetaucht.
Warum Escape Rooms gerade junge Menschen ansprechen, kann Marianne Bauer erklären. "Es ist die Kombination von spielerischen Elementen und gemeinsamem Tun", sagt die Referentin für Katechese und Religiöse Bildung beim Erzbistum Köln. Bauer konnte, wie Hecking und Hachmann, viel Erfahrung mit diesem Abenteuer-Spiel sammeln. Bereits mehrfach hat sie Escape Rooms in der Jugendarbeit eingesetzt. "Jugendliche lieben diese kreative Form, sich Inhalte zu erschließen", so Bauer. Oft haben ihre Szenarien mit dem Glauben zu tun: Die Teilnehmer finden sich darin in einer in der Bibel beschriebenen Situation wieder oder müssen sich mit dem Leben eines Heiligen beschäftigen. "Das ist Glaube zum Anfassen", schwärmt die Sozial- und Religionspädagogin.
"Escape Rooms sind eine echte Chance für die Katechese"
Seit einigen Jahren haben deshalb auch die Kirchen diesen Trend für sich entdeckt: Im Erzbistum Paderborn etwa gibt es einen Escape Room für Jugendliche in einer Seitenkapelle des Doms, für das Reformationsjubiläum im vergangenen Jahr wurde eigens ein "Luther-Escape-Room" entwickelt und im Bistum Speyer will das Diözesanarchiv Schüler mit einem "Escape the archive"-Spiel für die Arbeit kirchlicher Archive begeistern. Selbst in das Programm des jüngsten Katholikentags in Münster hat das Spiel mit dem "Damaskus Escape Room" über das Leben des Apostels Paulus Einzug gehalten. Bauer verwundert das nicht, denn "Escape Rooms sind mehr als nur stupides Lernen". Sie ermöglichen es, der Normalität zu entfliehen und sich ganz in eine Situation hineinzuversetzen. "Deshalb sind sie eine echte Chance für die Katechese."
Das können Hecking und Hachmann aus ihrer Arbeit mit den mehr als 70 Gruppen aus Schule und Pfarrei bestätigen, die sie bislang bei ihrer Zeitreise begleitet haben. Bei der Konzeption des aktuellen Szenarios haben sie besonders an den Einsatz im Unterricht gedacht. "Die Schüler sollen verstehen, wie es war, in der damaligen Zeit zu leben", sagt Hachmann mit Blick auf die zwölf Jahre des Nationalsozialismus. Diese Situation wortwörtlich zu begreifen, sei das "Lernziel" ihres Escape Room, erklärt der Pädagoge.
Die Weßelers strahlen. Sie haben das Ziel ihres kurzen Abenteuers erreicht: Sohn Maik hält die Predigten des "Löwen von Münster" in seinen Händen. Die Gestapo ist noch nicht eingetroffen und die Familie hat noch eine Viertelstunde, um das Gebäude zu verlassen. Der mutige Pfadfinder-Gruppenleiter konnte vor Schlimmerem bewahrt werden. Hecking und Hachmann betreten den Raum und den Weßelers wird klar, dass ihre Zeitreise vorbei ist. Die beiden Spielleiter haben jedoch eine weitere Aufgabe für die Familie. "Nun müsst ihr bestimmen, was mit den Predigten geschehen soll", sagt Hecking und fordert jeden dazu auf, eine von zwei Münzen in eine Holzschatulle zu werfen. Das eine Geldstück bedeutet, die Predigten zu verteilen und somit die Kritik von Galens an den Behinderten-Morden der Nazis weiterzutragen. Das andere ist die sichere Variante und steht für die Vernichtung der Abschriften.
Bei den Weßelers überwiegt der Mut, eine Mehrheit stimmt für das Verteilen der Predigten. Zwei Familienmitglieder haben sich jedoch dafür ausgesprochen, sie zu vernichten. Die Gesichter der Eltern sehen etwas enttäuscht aus, als sie zu ihren Kindern blicken. "Die meisten Gruppen entscheiden sich dafür, die Predigten zu verteilen", verrät Hecking – wenn auch nicht alle. Trotzdem freut die Spielleiter das Ergebnis, denn sie sehen ihren Escape Room auch als Angebot zur Sensibilisierung für die heutige Zeit, in der Rechtspopulismus in der Politik weltweit um sich greift.
Für die Weßelers ist eine knappe Stunde voller Abenteuer zu Ende gegangen. Ihr Ausflug ins Jahr 1941 hat ihnen gefallen: "Es war sehr authentisch", so der Vater. Tochter Katrin fügt hinzu: "Wir haben uns beim Lösen der Rätsel gut ergänzt." Doch man ist sich einig, lieber im Jahr 2018 leben zu wollen. So verlässt die Familie gemeinsam den dunklen Raum, um in die Realität zurückzukehren. Im Sonnenschein verlassen sie das Pfarrheim in Emsdetten. Nun sind die Weßelers wieder eine ganz normale Familie.