Ein Brandbrief an Kardinal Brandmüller
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Eure Eminenz,
Sie kritisieren, dass die Kirche in Deutschland und Westeuropa sich dem gesellschaftlichen Mainstream und dem Zeitgeist anpasst. Sie sagen das, als wäre es immer etwas Schlechtes, eine Beleidigung. Aber waren nicht die Evolutionstheorie, die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Ächtung der Todesstrafe auch zunächst Zeitgeist, dann Mainstream und erst viel später kirchlich legitimiert? Vielleicht sollten Kardinäle und Bischöfe noch öfter ein Ohr für den Mainstream und das Kirchenvolk haben. "Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt." (Offb 2,7)
Sie sagen, die reiche Kirche in Deutschland will die "ärmeren Geschwister" in der Weltkirche "schulmeistern". Aber ist es nicht so, dass die Bischöfe in Deutschland gerade aus Respekt vor kulturellen und gesellschaftlichen Unterschieden für eine Dezentralisierung eintreten und pastorale Herausforderungen dort angehen wollen, wo sie bestehen? Das hat das Vorgehen bei der Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene und konfessionsverschiedene Paare gezeigt. Mein Eindruck ist eher, dass sich langsam aber sicher eine "Schulmeisterei" in die gegensätzliche Richtung entwickelt, wenn verächtlich über leere Kirchen und Priestermangel in Europa gesprochen wird.
Sie sagen, ein Zusammenhang zwischen Homosexualität und Missbrauch sei statistisch erwiesen, weil 80 Prozent aller Opfer männlich waren. Diese Behauptung ist eine Nebelkerze, da eine Kausalität wissenschaftlich gerade nicht belegt ist. Vielmehr spielen diverse Faktoren eine Rolle. Was bedeutet es zum Beispiel, dass der Anteil der Priester, die Täter wurden, weitaus höher ist als der der Diakone, aber auch der Lehrer oder Sporttrainer?
Sicher hat das Priesteramt in der Vergangenheit überproportional viele Homosexuelle angezogen – jedoch häufig die, die sich nicht mit ihrer eigenen Sexualität auseinandersetzen konnten oder wollten. Das ist ein Faktor. Auch der Zölibat ist ein Faktor. Durch ihn steht jeder körperliche oder emotionale Kontakt zu erwachsenen Frauen unter Generalverdacht. Die Priesterausbildung war ein Faktor, weil sie Sexualität früher tabuisiert hat. Wo Sexualität jedoch nicht reflektiert wird und sich nicht entwickeln kann, da sucht man sich vermeintliche "Partner auf Augenhöhe". Das starke Machtgefälle zwischen Priester und Gemeinde war ein Faktor. Wir nennen das heute Klerikalismus. Und letztlich war – so traurig das klingt – die Gelegenheit ein Faktor. Ministranten waren im vergangenen Jahrhundert überwiegend männlich.
Eminenz, Katholiken überall auf der Welt vertrauen Ihren Worten. Sagen Sie ihnen, dass es in der heutigen Welt keine einfachen Lösungen gibt, kein schwarz-weiß und kein "wir" gegen "die". Und lassen Sie uns als Kirche ein wenig mehr Mainstream wagen!
Hochachtungsvoll
Björn Odendahl