"Wir brauchen niemanden, der uns kontrolliert"
Schwester Ancilla Röttger (68) ist Klarissin in Münster und Vorsteherin der kontemplativen Gemeinschaft dort. Am 1. April 2018 hat Papst Franziskus durch die Instruktion "Cor orans" - "Das betende Herz in der Kirche" das Leben in den weiblichen kontemplativen Konventen neu geregelt. Doch sind die Neuerungen des Papstes überhaupt umsetzbar? Schwester Ancilla hat die Instruktion gelesen.
Frage: Schwester Ancilla, was hat sich für Ihre Gemeinschaft durch das neue Dokument verändert?
Sr. Ancilla Röttger: Als kontemplativer Orden haben wir bislang nach der strengen päpstlichen Klausur gelebt, die durch viele Normen geregelt war. Für viele Dinge, die außerhalb des Klosters stattfinden, brauchten wir ständig Sondergenehmigungen, zum Beispiel auch für uns als Klarissenkonvent am Dom um in den Dom zu gehen. Manche Reformen waren längst überfällig. "Cor orans" gibt uns die Freiheit, uns für eine Klausurform zu entscheiden, die zu unserer speziellen Sendung hier am Dom passt. Notwendige Ausgänge wie zum Arzt oder in die Apotheke (oder auch mal zu einer Bürgerabstimmung) konnten wir schon immer selber regeln. Wir Nonnen leben freiwillig in der Klausur, niemand muss uns kontrollieren oder uns durch irgendwelche Regeln diese Lebensweise schmackhaft machen. Für uns ist die Klausur lebensnotwendig.
Frage: Haben Sie sich immer an die strengen Klausurvorschriften gehalten?
Sr. Ancilla. Grundsätzlich schon, aber es gab schon immer rechtliche Grauzonen, wo es von der eigenen Entscheidung abhängt, was zu tun ist. Wenn zum Beispiel eine Mitschwester dringend nach Hause musste, um ihre kranken Eltern zu pflegen. Dann habe ich das erlaubt, ohne beim Ordensreferat nachzufragen. Ich habe die Zuständigen aber immer darüber informiert. Es gibt halt Dinge im Leben, die gemacht werden müssen. Früher durfte die Äbtissin erlauben, dass sich eine Nonne sieben Tage außerhalb des Klosters aufhalten konnte. Durch die neue Instruktion sind es nun 15 Tage. Wenn man aber länger als drei Monate außerhalb des Klosters leben wollte, brauchte man die Erlaubnis des Papstes. Heute reicht die Befugnis der Äbtissin bis zu einem Jahr Aufenthalt außerhalb des Klosters. Wir Schwestern gehen nie unüberlegt hinaus. Wir prüfen jedes Anliegen genau und achten darauf, dass dieser besondere Ort der Sammlung von allen geschützt wird. Nun bin ich schon über 42 Jahren im Kloster und habe mein Leben noch nie als Verzicht gesehen.
Frage: Was kritisieren Sie an der neuen Instruktion?
Sr. Ancilla: Die Ausbildungszeit für kontemplative Ordensgemeinschaften wurde von sechs auf neun Jahre ausgedehnt. Das ist zu lange. Bei uns entdeckt man relativ rasch, ob man für ein Leben in Stille und Einkehr geeignet ist oder nicht. In einem tätigen Orden wie bei den Franziskanerinnen oder Clemensschwestern hier in Münster werden die Schwestern zu den Menschen ausgesandt und übernehmen von Anfang an konkrete Aufgaben. Wenn bei uns eine über 40-Jährige eintritt, geht sie nach der ewigen Profess schon am Rollator spazieren, bevor sie sich aktiv in die Gemeinschaft einbringen kann. (Lacht.) Ich hoffe also sehr, dass man diese Regelung noch korrigiert.
Frage: In "Cor orans" wird die Klausur als intimer Ort zwischen Braut und Bräutigam beschrieben …
Sr. Ancilla: Als ich mit 24 Jahren ins Kloster eingetreten bin, habe ich mir schon überlegt, ob ich wirklich die Millionste Braut Jesu Christi sein möchte. Heute verstehe ich dieses Bild anders. Ich fühle mich tief geborgen in der Gegenwart Gottes. Er hat einen festen Platz in der Kammer meines Herzens.
Frage: Wie geht man mit dem Thema Sexualität im Kloster um?
Sr. Ancilla: Das Thema Sexualität ist bei uns immer wieder präsent. Früher habe ich mich intensiver damit auseinandergesetzt. Heute sehe ich vieles gelassener. Wenn man in strenger Klausur lebt und viel schweigt, kommt einiges an Fragen in einem hoch und das zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Wenn man sich für ein eheloses Leben entscheidet, muss man sehr aufrichtig zu sich selber sein. Bei meinem Eintritt ins Kloster war ich einfach nur begeistert, meiner Berufung folgen zu können. Alles andere trat in den Hintergrund, weil Gott mich haben wollte.
Frage: Haben Sie an Ihrer Berufung gezweifelt?
Sr. Ancilla: Ja. Wenn man im Alter von 24 Jahren ins Kloster geht, steht noch so vieles im Leben offen. Natürlich wäre es auch eine Option für mich gewesen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ich hätte mir durchaus eigene Kinder gewünscht. Ich liebe Kinder. Vor meinem Eintritt war ich Lehrerin. Aber ich fühlte mich angezogen von einem Leben ganz für Gott. Ich bin vor niemanden geflohen, im Gegenteil. Ich fühlte mich berufen und musste einiges zurücklassen. Auch im Kloster trifft man immer wieder sympathische Männer. Manchmal habe ich mir schon gedacht, dem hätte ich auch mal früher begegnen können. Aber meine Entscheidung war gefällt. Da muss man auch konsequent bleiben. Das ist in einer Ehe nicht anders. Bei mir war Gott zuerst da. Heute finde ich es sehr befreiend, nach so vielen Jahren zu einer einmal getroffenen Entscheidung zu stehen und daraufhin das Leben anzuschauen. Es war mein Weg und er war richtig für mich.
Frage: Wie prüfen Sie bei Bewerberinnen, ob sie für ein klösterliches Leben geeignet sind?
Sr. Ancilla: Ich merke schnell, ob eine Frau für ein Leben im Kloster geschaffen ist oder nicht. Ich finde aber, dass jede Ordensfrau, die ins Kloster will, auch die Fähigkeit haben sollte, eine gute Mutter und Ehefrau zu sein. Ich bin schließlich nicht Nonne geworden, weil bei mir etwas amputiert wurde. Es gibt aber Frauen, die das Kloster mit einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung verwechseln. Es gibt sogar Ärzte, die psychisch labilen Frauen raten, so eine abgeschlossene Klosterwelt aufzusuchen. Wir sind aber keine therapeutische Gemeinschaft! Bei der Aufnahme zum Postulat wird der Gesundheitszustand einer Bewerberin sehr genau geprüft. Wir schauen auch, ob sie eine dem Alter angemessene Reife hat und sie auch charakterlich für ein klösterliches Leben geeignet ist. Außerdem sollte sie gemeinschaftsfähig sein und fest verankert in ihrem Glauben. Nur so kann ihr Wunsch nach einem klösterlichen Leben aufrichtig sein.
Frage: Wie geht man im Kloster mit Streitigkeiten um?
Schwester Ancilla: Oh, manchmal braut sich bei uns schon was zusammen! Aber wir Schwestern müssen die Probleme immer wieder ins Wort bringen und nichts unter den Teppich kehren, denn wir können nicht hinausgehen, um in der Stadt herumzulaufen und uns abzureagieren. Als Äbtissin motiviere ich die Schwestern dazu, Konflikte auch anzusprechen. Es geht nicht anders. Wir sitzen bis zu sechs Stunden täglich gemeinsam vor dem Tabernakel. Wenn ich dann neben einer Schwester beten muss, mit der ich im Streit bin, hält man das nicht lange aus. Wir haben daher regelmäßige Gespräche, wo wir alles, was unter den Nägeln brennt, auf den Tisch bringen. Und wenn die Schwestern es nicht hinkriegen, dann spreche ich die Probleme an. Wir hatten auch mal so große Probleme in der Gemeinschaft, dass wir eine Beraterin von außen brauchten, um den Kommunikationsstau zu beheben. Streit ist gesund, aber nur dann, wenn er andere nicht klein macht oder verletzt. Das ist wichtig für uns, denn wir wollen nach dem Evangelium leben. Das ist schließlich unsere Berufung.
Frage: Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft Ihrer Gemeinschaft?
Sr. Ancilla: Seitdem ich mein ewiges Gelübde abgelegt habe, ist diese Frage nicht mehr meine. Ich bin nun auch älter geworden. Wir sind neun Schwestern im Konvent. Früher waren wir 12. Aber dann wird es auch eng hier im Haus. Wir leben unsere Berufung aus ganzem Herzen. Unsere jüngste Mitschwester ist 50, die älteste gerade 90 Jahre alt geworden. Wenn Gott uns also keine Schwester mehr schickt, dann ist es so. Dann ist unsere Aufgabe hier in Münster auch irgendwann einmal beendet.