Professoren ziehen Schlüsse aus der MHG-Studie

Was die Theologie aus dem Missbrauchsskandal lernen muss

Veröffentlicht am 12.02.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Hat die Theologie eine Mitschuld am Missbrauchsskandal? Einige Vertreter der Disziplin haben begonnen, dieser Frage nachzugehen. Gleichzeitig machen sie sich Gedanken, wie eine glaubwürdige Theologie "danach" aussehen könnte. Das Ergebnis: Manche Lehren müssen revidiert werden.

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Die Autoren der im vergangenen Herbst veröffentlichten MHG-Studie haben der katholischen Kirche strukturell-systemische Defizite attestiert, die den sexuellen Missbrauch Minderjähriger und dessen Vertuschung begünstigt haben. Dieser Befund hat nicht nur die Bischöfe, sondern auch die Theologen zum Nachdenken gebracht. "Was mich so betroffen gemacht hat, ist die Erkenntnis, dass die Theologie Teil des Systems ist", sagt Matthias Remenyi im Gespräch mit katholisch.de. Er ist Professor für Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg. "Mit meinem Lehrauftrag unterrichte ich im Namen der Kirche angehende Religionslehrer, Priesteramtskandidaten und Pastoralreferenten. Das heißt, ich bin mit meiner Profession Teil dieses Systems. Dann muss ich mich doch fragen: Was hat das mit mir und meiner Arbeit zu tun?"

War und ist die Theologie Teil des Problems? Hat eine bestimmte Ausprägung von ihr den sexuellen Missbrauch in der Kirche und dessen Vertuschung begünstigt? Immerhin sind diese Strukturen, die die MHG-Studie kritisiert, nicht im luftleeren Raum entstanden. Sie entspringen bestimmten Theorien, die sich über Jahrhunderte hinweg verfestigt haben. "Wir müssen ernst nehmen, dass wir zu allererst Teil dieser Institution sind, die diese Taten ermöglicht, zugelassen und vertuscht hat", betont Remenyi. "Und in einem zweiten Schritt müssen wir auf die Inhalte schauen, die wir unterrichten: Was ist mit der Theologie geschehen? Was ist mit unserer Ekklesiologie geschehen? Was ist mit unserer Amtstheologie geschehen, dass so etwas passieren konnte?"

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Angesichts der Ergebnisse der MHG-Studie beginnen immer mehr Theologen damit, den Anteil ihrer Wissenschaft an der Missbrauchskrise zu untersuchen.

Er und einige seiner Kollegen haben damit begonnen, sich genau diese Frage zu stellen. So versucht etwa der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet in seinem Beitrag für den kürzlich erschienenen Band "Unheilige Theologie", Ursachenforschung zu betreiben. Striet schreibt unter anderem, die Kirche habe sich in ihrem Willen zur Systemstabilisierung "die Möglichkeit verstellt, sich selbst mithilfe humanwissenschaftlicher Theorien konsequent auch als Gefahrensystem über sich selbst aufzuklären". Bis heute herrsche oft die Auffassung, man könne Theologie treiben, ohne sich auf die universitären Forschungsdiskurse einzulassen. "Man formuliert ungehemmt Wahrheiten, weil man sich in der Wahrheit weiß." Sobald aber deutlich wird, dass die Wirklichkeit eine andere ist, greife man zu theologischen Erklärungsvarianten, die aber "schlicht grotesk" seien.

Das Ganze ist wichtiger als seine Glieder

Lange Zeit habe in der Kirche der Schutz der Institution eine größere Rolle gespielt als der Schutz des Einzelnen. Dies zeigt sich laut Striet bereits an der Tatsache, dass die Aufklärung der Fälle sexuellen Missbrauchs größtenteils nicht aus der Kirche heraus begonnen wurde, sondern durch Druck von außen. Daraus ergebe sich die Frage, "wie stark ein bestimmtes, historisch gewordenes systemisches Bewusstsein mit dafür verantwortlich zeichnet, dass sexualisierte Gewalt zu einer verschwiegenen Tatsache innerhalb des Sozialsystems katholische Kirche werden konnte". Wenn eine "mangelnde Sensibilität für das Individuum" zum Verschweigen sexuellen Missbrauchs geführt habe, müsse dem Verdacht nachgegangen werden, "ob nicht sogar theologische Denkfiguren im Raum Kirche missbrauchsbegünstigend, weil systemstabilisierend gewirkt haben könnten", so Striet.

Ein Beispiel sei die lange vorherrschende Amtstheologie samt ihrem Priesterbild. Das sakramentale Amt sollte um jeden Preis geschützt werden, schreibt Magnus Striet. "Stark aufgeladen mit Sakralität dient es zugleich als eine Kontrastfigur zu dem, was als Welt identifiziert wird – und zwar als eine Welt, die unrein, weil sündig ist." Mit diesem Amtsverständnis stecke die Kirche aber in einer Falle, findet Matthias Remenyi. "Durch den Zölibat, durch die Beschränkung des Priesteramts auf Männer, durch die Differenz von Klerus und Laien, durch dieses Männerbündische, durch diese im Hintergrund immer noch virulente Fantasie von Weltentrücktheit und kultischer Reinheit fördern wir gewissermaßen ein sakralisiertes Amtsverständnis." Dies berge die in der MHG-Studie beschriebenen Risiken: systemischen Asymmetrien, Beziehungen, die nicht mehr auf Augenhöhe gestaltet werden oder unerfüllbare Projektionen in die Person des Priesters.

Bild: ©www.uibk.ac.at

Matthias Remenyi ist Fundamentaltheologe an der Universität Würzburg.

Doch der Kampf gegen diese falsch verstandene Sakralität heißt laut Remenyi nicht, die Amtstheologie insgesamt über Bord zu werfen. Man müsse zwischen Sakralität und Sakramentalität unterscheiden. "Die Sakramentalität von Kirche und auch vom kirchlichen Amt würde ich verteidigen wollen." Denn diese sei das Gegenteil von Sakralität: "Sakramentalität heißt, dass man das Moment der Differenz zwischen sakramentalem Symbol und sakramental Symbolisiertem stark macht." Dadurch werde betont, dass es nicht um die Institution Kirche und nicht um das Priestersein als solches gehe, sondern darum, mit diesem Dienst, mit diesem Amt und mit dieser Institution der Menschenfreundlichkeit Gottes Raum zu geben.

Woher kommt diese "Rezeptionsblockade"?

Doch dies alles sei bereits "hundert Mal" geschrieben worden, sagt Remenyi. "Was mich so bewegt in der jetzigen Debatte: Warum wird das nicht zur Kenntnis genommen? Und was bedeutet das für unsere theologische Sprache?" Sein Rezept lautet: "Wir müssen um der Kirche willen klarer und angstfreier sprechen – vor allem im Hinblick auf unsere Rolle im System der Kirche." Magnus Striet wird in seinem Beitrag deutlich: "Will man Lehren ziehen aus der Geschichte, so ist sehr grundsätzlich nachzudenken, ob man nicht systemisch und das bedeutet: theologisch umdenken muss."

Remenyi ist überzeugt, dass man keine glaubwürdige Theologie mehr treiben könne, ohne den Missbrauchsskandal mitzudenken. "Wir müssen uns schon fragen, welche praktischen Konsequenzen unsere theologischen Modelle und Konzepte haben." Zu allererst müsse man die Inhalte einer Revision unterziehen, vor allem in den Bereichen Amtstheologie, Ekklesiologie, Kirchenrecht und Spiritualitätstheologie. Die Theologen sollten gleichzeitig ihre Rolle in diesem System reflektieren und zu einer neuen Sprachfähigkeit sowie einem neuen Selbstbewusstsein kommen. "Wir müssen lernen, klar und angstfrei zu sprechen."

Der Würzburger Professor findet, dass die Theologen den Ergebnissen der MHG-Studie nicht ausweichen dürfen – nicht den Zahlen und Daten und auch nicht den systemischen Hintergründen, die die Forscher genannt haben. Das Thema sei in der theologischen Landschaft Deutschlands mittlerweile sehr präsent. "Das beschäftigt die Kollegen natürlich. Ich weiß aber auch, dass das Thema angstbesetzt ist." Er kenne Kollegen, die sich ganz bewusst aus diesen Dingen heraushielten, weil sie Angst hätten, dadurch an ihren anderen Projekten gehindert zu werden. "Ich habe mir vorgenommen, dass ich Theologie vor der Folie dessen betreiben will, was da geschehen ist und weiterhin geschieht", betont Remenyi. "Ich möchte auch lernen, systemisch freier zu sprechen."

Von Matthias Altmann