Missbrauchstäter: Warum Entlassung nicht immer die beste Lösung ist
Der Papst hat den schon aus dem Kardinalat entlassenen ehemaligen Erzbischof von Washington Theodore McCarrick vor einer Woche auch aus dem Klerikerstand entlassen, da dieser des sexuellen Fehlverhaltens mit Minderjährigen und Erwachsenen sowie des Missbrauchs im Rahmen des Bußsakramentes in Verbindung mit Machtmissbrauch für schuldig befunden wurde. Der Vatikan ebenso wie die allgemeine Berichterstattung betonen, damit habe McCarrick die schärfste Strafe getroffen, die das Kirchenrecht für einen Kleriker vorsehe.
Rechtssystematisch kann dieser Einschätzung nicht widersprochen werden. Immer da, wo der Codex Iuris Canonici ansteigende Strafen vorsieht oder eine Hierarchie von Strafen andeutet, taucht für Kleriker die Entlassung als die schlimmste aller Strafen auf, über die hinaus nichts mehr verhängt werden kann. Und so scheint es angemessen, für die schlimmste aller denkbaren Missbräuche des Amtes – dasselbe und dessen Autorität auszunutzen zum eigenen Vorteil, für die eigene Lust und unter Inkaufnahme einer Schädigung Dritter – auch die schlimmste aller Strafen zu verhängen.
Nulltoleranzstrategie führt zu Entlassungen
Damit kommt man einer allseits geäußerten Erwartung entgegen: Kein Statement von Opfervertretern in der kirchlichen Missbrauchsdebatte kommt ohne die Forderung aus, man solle die Täter sofort aus dem klerikalen Stand entlassen. Und auch Vertreter der kirchlichen "Obrigkeit" betonen immer und immer wieder, dass man eine Nulltoleranzstrategie verfolge, was - so hat es den Eindruck - in der Praxis auch bedeutet, sich von auffällig gewordenen Mitarbeitern so schnell es geht zu trennen. Konsequent begrüßte der maltesische Erzbischof Charles Scicluna – ein seit Jahren erfahrener Ermittler und Richter der Glaubenskongregation in Missbrauchsverfahren und Mitorganisator des derzeit stattfindenden Anti-Missbrauchsgipfels – die Entlassung McCarricks als "sehr wichtiges Zeichen", das deutlich mache, dass Bischöfe nicht über dem Gesetz stünden.
Denn ein Verbleib im Amt, so wird suggeriert, sei weder den Opfern noch den Kollegen noch den Vorgesetzten zuzumuten. Daher könne der Kleriker nicht Kleriker bleiben, vielmehr müsse man ihn zum Laien machen. Die in diesem Kontext oft verwendete Benennung "Laisierung" ist insofern unglücklich, als dass sie den Eindruck vermittelt, dass das Leben als Laie in der Kirche eine Strafe sei, die nur den allerschlimmsten zugemutet werden könne. Im weltlichen Bereich ist man da klarer: Die strafweise Entlassung eines Beamten wird ja auch nicht "Verbürgerlichung" genannt.
Ich vermag das Urteil im Fall McCarrick inhaltlich nicht zu kommentieren, zu wenig weiß ich über die Beweise, die im Verfahren vorgelegt und als zutreffend erachtet wurden. Aber ich halte die grundsätzliche Forderung nach einer sofortigen Entlassung von Tätern ohne wenn und aber für falsch. Ich tue dies in dem Wissen, dass eine solche Anmerkung nicht dazu geeignet ist, spontane Zustimmung auszulösen. Mein Anliegen ist dabei auch keineswegs von der Ansicht getragen, solche Taten wögen nicht so schwer und man solle Nachsicht mit den Tätern haben. Weder das eine noch das andere ist der Fall. Etwas schlimmeres als die Verwendung genau dessen, was man für eine gute geistliche Begleitung der Menschen braucht – Vertrauen und Autorität – zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, kann ein Kleriker nicht tun. Und deswegen greift die aktuelle Krise in derart ungeahnter Weise in die Substanz der Kirche ein.
Das Kirchenrecht sieht eine gerechte Strafe vor
Der Katalog möglicher Taten, die zu entsprechenden Strafverfahren und am Ende oft zur Entlassung aus dem klerikalen Stand führen, ist recht umfänglich. Er deckt die Bereiche Besitz und Verbreitung kinderpornographischer Bilder ebenso ab wie Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Innerhalb dieser beiden Tatgruppen finden sich unterschiedliche Häufigkeiten der Taten ebenso wie deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Schwere der Taten. So wie es bei den aufgefundenen Bildern mal um einige wenige Nacktbilder und mal um mehrere Terabyte härtester Pornographie gehen kann, so reicht die Spannbreite der Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von grenzverletzenden Berührungen fast Volljähriger bis hin zum hundertfachen schwersten sexuellen Missbrauch deutlich vorpubertärer Kinder. Alle diese Taten subsumiert der Codex Iuris Canonici in c. 1395 § 2 als Verfehlung gegen das sechste Gebot des Dekalogs, die mit einer gerechten Strafe zu belegen sei, die Entlassung aus dem klerikalen Stand nicht ausgeschlossen.
Das kirchliche Strafrecht kennt als Strafmaß meist nur die höchst unbestimmte Formulierung der "iusta poena", der gerechten Strafe. Diese Formulierung, die angesichts der weltweiten Geltung des Gesetzbuches nicht grundsätzlich abzulehnen ist, führt nach c. 1349 CIC dazu, dass zumeist keine Dauerstrafen verhängt werden dürfen. Die Entlassung aus dem klerikalen Stand ist eine Dauerstrafe, nicht, weil das Leben als Laie als besonders Buße verstanden würde, sondern weil der Kleriker mit der Entlassung seine Unterhaltsansprüche gegen den Bischof verliert. Auf den ersten Blick ist die Entlassung also die schwerste Sühnestrafe, die einen Kleriker treffen kann.
Warum keine Exkommunikation?
Bisweilen wird auch die Exkommunikation der Täter gefordert. Eine solche Forderung verkennt, dass die Exkommunikation zu den sogenannten Beugestrafen gehört, deren Ziel darin besteht, den Delinquenten zu bewegen, sein falsches Tun aufzugeben und sich mit der Kirche zu versöhnen. Sobald er aber sein gesetzwidriges Tun aufgibt, ist diese Strafe zwingend aufzuheben. Inhaltlich begründet wird dies damit, dass der Täter sich durch sein Tun von der Gemeinschaft der Gläubigen getrennt habe, und solange diese Trennung andauere, könne er am sakramentalen Leben der Kirche nicht teilnehmen.
Als Sühnestrafe hingegen wäre die Exkommunikation nicht mehr Dokumentation einer Trennung des Täters von der Gemeinschaft der Gläubigen, vielmehr wäre sie eine Verstoßung des Sünders aus eben dieser Gemeinschaft. So schwer es aber fallen mag – auch der Sünder bedarf der Gemeinschaft der Kirche, und Solidarität mit den Armen und Schwachen bedeutet eben auch, dass wir es aushalten müssen, dass auch Theodore McCarrick ein Bruder in Christus bleibt.
Die Androhung der Entlassung und mehr noch die Erfahrung, dass Täter auch wirklich entlassen werden, soll potentielle Täter von Taten abhalten – sie ist also als generalpräventive Maßnahme gedacht, die die Kinder schützt, indem sie potentielle Täter abschreckt. Charles Scicluna hat dies in seiner Stellungnahme zum Ausdruck gebracht. Auch kann der Täter nach der Entlassung aus dem klerikalen Stand keine weiteren Taten in seiner Rolle als Kleriker mehr begehen – eine zumindest partikulär individualpräventive Maßnahme.
Zu den auf den ersten Blick unstreitigen Vorzügen sind gleichwohl Bedenken anzumelden: Ohne damit die Ernsthaftigkeit der Schuld in Zweifel ziehen zu wollen – so ist doch anzufragen, ob das hier angewendete "one-size-fits-all"-Prinzip wirklich angemessen ist, wenn man für alle erdenklichen Straftaten an Minderjährigen im sexuellen Bereich immer ein und dieselbe Strafe verhängt. Zumal – darauf muss hingewiesen werden – derjenige, der einmal die Grenze überschritt, dann auch nichts mehr zu verlieren hat. So gibt es aus dem staatlichen Bereich valide Hinweise, dass lebenslange Freiheitsstrafen für Sexualstraftaten diese in ihrer Zahl nicht sonderlich verringern (der durchschnittliche Täter erwartet ja, nicht gefasst zu werden), sie aber die Überlebenschance der Opfer drastisch verkleinern. Denn die Tötung zur Verdeckung der Tat kann den Strafrahmen nicht mehr vergrößern, das tote Opfer jedoch kann den Täter nicht mehr identifizieren. Die verschärfte Strafe hat hier nicht nur generalpräventive Wirkung – sie kann auch zum Anlass für weitere, noch schwerere Taten werden.
Das Trachten des Täters ist dann auch primär nicht auf die Vermeidung der Strafe, sondern vielmehr auf die Vermeidung der Entdeckung der Tat gerichtet, so dass wichtiger als die Schwere der Strafe die Sicherheit der Entdeckung sein dürfte. Präventionsarbeit setzt daher aus gutem Grund sowohl darauf, potentiell gefährliche Situationen zu verhindern als auch darauf, es Opfern leicht zu machen, Taten anzuzeigen. Ob es umgekehrt klug ist, den Täter durch möglichst hohe drohende Strafen von der Suche nach Hilfe abzuhalten, muss gefragt werden. Im Augenblick kann man als Anwalt Tätern in der Kirche von einer Selbstanzeige nur abraten!
Individualprävention schützt zuerst den Ruf der Kirche
Der individualpräventive Effekt, also das Abhalten des Täters von weiteren Taten, beschränkt sich bei der strafweisen Entlassung darauf, dass im Fall weiterer Taten die Kirche nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit stehen wird. Dass das kirchliche Recht weit bessere Werkzeuge anbietet, die einen Täter von weiteren Taten abzuhalten in der Lage sein können, bleibt hier außer Acht.
Mit der Entlassung aus dem klerikalen Stand und gegebenenfalls aus dem Orden verlieren die Betroffenen das Recht auf Unterhalt und Versorgung, sie werden aber auch befreit von ihrer Pflicht zum Gehorsam gegenüber ihren Oberen.
Je nachdem, ob entlassene Priester Arbeit finden oder von Sozialleistungen leben, ob sie im Ruhestandsalter sind und eine hohe Rente beziehen oder nur mit dem Pflichtbetrag nachversichert wurden: Dieselbe Strafe zeitigt höchst unterschiedliche Folgen. Was derart bestrafte Priester in jedem Fall behalten, sind die im Dienst erworbenen Softskills: Beziehungen und Vertrauen zu Menschen aufzubauen, Verlässlichkeit zu suggerieren, zuzuhören und so weiter. Gerade bei körperlich übergriffig gewordenen Klerikern sind es genau diese Fähigkeiten, die ihnen die Taten ermöglicht haben!
Optionen des Kirchenrechts jenseits der Entlassung
Die schon genannte Strafvorschrift der gerechten Strafe erlaubt es dem Gericht, fast beliebige Auflagen zu verhängen. Zu nennen sind hier Zelebrationsverbote oder -einschränkungen, Gebote und Verbote, sich an bestimmten Orten aufzuhalten, Verpflichtungen zu Bußwerken (wie Gebete oder Fasten), Auflagen, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen und schließlich Geldleistungen an die Opfer zu zahlen. Vor allem diesen Punkt gilt es zu beachten: Dem im Klerikerstand Verbleibenden kann die Kirche das Gehalt zugunsten von Zahlungen an das Opfer pfänden. Beim entlassenen Kleriker kann sie nur auf die zivile Gerichtsbarkeit verweisen, deren eher überschaubare Schmerzensgelder bekannt sind und die schlimmstenfalls auch nichts zu pfänden vorfindet, wenn der Täter sich nicht gleich in die Verjährung der Ansprüche rettet. Eine "one-size-fits-all"-Strategie bei der Strafe kann hier zum Schaden des Opfers gereichen.
Verstöße gegen solche Anordnungen können ihrerseits sanktioniert werden, bis an den Punkt, an dem der Delinquent ausschließlich Naturalleistungen erhält (Wohnrecht im Priesterseminar, Vollverpflegung dort und priesterliche Kleidung aus der Kleiderkammer) bei bleibender Pflicht zur Arbeit, und wenn diese darin besteht, die (meist nicht vorhandenen) Latrinen zu putzen. Denn als Kleriker hat er einen Unterhaltsanspruch gegen den Bischof und damit keinen Anspruch auf staatliche Leistungen. Ein Ausweichen zum Sozialamt ist mithin nicht möglich – zumindest in der deutschen Situation nicht.
Damit hätte die Kirche Mittel an der Hand, dem straffällig gewordenen Priester weitere Taten zumindest erheblich zu erschweren, indem sie ihm ein Wohnen unter Aufsicht auferlegt, den Kontakt zu Kindern und Familien untersagt, die Nutzung des Internets verbietet oder klar beschränkt, Meldeauflagen am Ort erlässt und so weiter.
Eine solche Lösung ist fraglos unangenehm für alle Beteiligten und erfordert die Bereitschaft, dem Täter oft, womöglich täglich, zu begegnen. Es verlangt, mit Schuld umzugehen, Sühne ernst zu nehmen und sich den Kinderschutz etwas kosten zu lassen. Die Kirche könnte Täter aus ihren eigenen Reihen in einer Weise maßregeln, die dem Staat nicht möglich ist.