"Wir wollten die Dimension emotional deutlich machen"
Der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm, Jörg Fegert, sorgte in der vergangenen Woche mit diesen Zahlen für Aufsehen: Etwa 114.000 Opfer sexuellen Missbrauchs in katholischen Einrichtungen soll es deutschlandweit geben; genauso viele auf evangelischer Seite. Dazu hat Fegert 2.500 Menschen befragen lassen, von denen vier Missbrauch im katholischen Kontext erfahren haben. Diese Zahlen rechnete der Wissenschaftler dann auf 80 Millionen Menschen in Deutschland hoch. Katholisch.de hat mit ihm über seine Forschung gesprochen.
Frage: Herr Professor Fegert, die Deutsche Bischofskonferenz sagt, Ihre in der vergangene Woche vorlelegten Ergebnisse basierten auf einer "schwierigen Datenbasis". Können Sie das verstehen?
Fegert: Das kann ich durchaus verstehen. Wir hatten als kleine Forschungsgruppe ohne externe Projektförderung nur das Geld, 2.500 repräsentativ ausgewählte Deutsche zu befragen. Das sind aber Stichprobengrößen, wie man sie auch etwa für die Sonntagsfrage "Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?" verwendet. Es wäre natürlich wünschenswert, größere Stichproben zu befragen. Das kann man aber nur mit mehr Geld tun.
Frage: Wo kamen die Befragten her?
Fegert: Die kamen repräsentativ aus allen Bundesländern. Das waren persönliche Hausbesuche nach dem sogenannten "Random-Route-Verfahren". Der Befrager geht los und hat beispielsweise die Vorgabe, im vierten Haushalt auf der linken Straßenseite die älteste Person zu befragen. Da gibt es genaue Regeln. Durch die persönlichen Gespräche haben diese Befragungen vor Ort eine andere Qualität als etwa Telefoninterviews.
Frage: Wie tiefgehend wurden die Menschen befragt?
Fegert: Das sind Fragen, die schon der Kriminologe Christian Pfeiffer kurz nach 2010 in einer vom Bundesforschungsministerium initiierten Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen mit Unter-40-Jährigen angewandt hat. Die Fragestellungen sind kriminologisch detailliert. Es wird zum Beispiel nach einzelnen Handlungen gefragt, ob der Missbrauch mit oder ohne Penetration stattfand und Ähnliches.
Frage: Bei ihrer Vollversammlung in der vergangenen Woche haben die deutschen Bischöfe als Gründe für Missbrauch in der katholischen Kirche unter anderem noch einmal die Sexualmoral und Klerikalismus ausgemacht – beides spielt in der evangelischen Kirche weniger eine Rolle. In Ihrer Studie wurde aber trotzdem nicht nach Konfessionen differenziert. Welche Aussagekraft haben Ihre Ergebnisse dann überhaupt?
Fegert: Uns ging es auch nicht primär um die Kirchen, sondern um Missbrauch in Institutionen allgemein, zum Beispiel auch im Sport und in Chören. In der Studie wurde bei den Einrichtungen differenziert. Da konnten wir sicher sein, wenn bei einer katholischen Einrichtung "Priester" angegeben wurde, dass der katholisch war. In dem Fragebogen war allerdings ein Problem, dass der Begriff "Pfarrer" verwandt und dieser nicht einer Konfession zugewiesen wurde. Deshalb haben wir da ein Feld, das wir nicht eindeutig einer Konfession zuordnen können. Diese Zahlen sind aber in den bisher kommunizierten Zahlen nicht enthalten. Das heißt, in den vorliegenden Ergebnissen wurde nach Konfessionen unterschieden, deren Werte aber ungefähr gleich hoch waren. In den evangelischen Einrichtungen hatten wir allerdings außer Pfarrern auch andere Personen als Täter, während es in katholischen Einrichtungen in unserer Studie ausschließlich Priester waren.
Frage: Wenn die Zahlen gleich groß sind: Spielen Zölibat und Klerikalismus also keine Rolle?
Fegert: Die MHG-Studie kommt zu dem Schluss, dass der Zölibat nicht das Problem an sich ist. Wir haben dazu aber nichts gefragt und auch keine Zusammenhänge untersucht. Autorität der Kirche spielt sicher bei beiden Konfessionen eine Rolle, aber auch das war nicht Gegenstand unserer Untersuchung.
„Es hat viel Kritik ausgelöst, dass Papst Franziskus in seiner Rede zum Abschluss des Anti-Missbrauchsgipfels zu Anfang relativ lang über die Anderen geredet hat. Aber er hat Recht.“
Frage: Mit dem Hochrechnen der Ergebnisse liefern Sie sich dem Vorwurf aus, verfälschend und unseriös zu arbeiten. Warum haben Sie sich trotzdem dazu entschieden?
Fegert: Um die Dimension emotional deutlich zu machen. Das ist aber nicht unseriös und es ist nicht verfälschend, da wir ein sogenanntes Konfidenzintervall mit angeben: Der wahre Wert liegt nicht exakt beim Mittelwert, sondern mit einer doch sehr hohen Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent zwischen 28.000 und 280.000. Dieser Wert, das "Dunkelfeld", ist also 8 bis 80 Mal größer als die von der MHG-Studie in den Akten gefundenen Fälle, das sogenannte "Hellfeld". Das ist wissenschaftlich exakt. Wenn ich aber schreibe: Die Missbrauchshäufigkeit in der katholischen Kirche liegt bei 0,16 Prozent, dann klingt das nach wenig und nicht nach einem ernstzunehmenden Problem. Doch von zwischen knapp 30.000 und 300.000 Betroffenen zu sprechen, macht die Dimension klar. Es geht darum, dass die Kirche insgesamt diesen Menschen stärker gerecht wird und den Missbrauch nicht als Einzelphänomen sieht. Ich glaube auch, dass in den kirchlichen Verwaltungsverfahren in Bezug auf die Taten nur die Spitze des Eisbergs deutlich wurde, wenn man das mit den Dunkelfeldangaben, den Zahlen der Anlaufstellen der Missbrauchsbeauftragten oder aus der katholischen Hotline vergleicht. Mir ging es darum, klar zu machen, dass wir hier eine große Aufgabe vor uns haben und ich wollte erneutem ungläubigem Staunen vorbeugen, denn die aus meiner Sicht sehr gute MHG-Hellfelduntersuchung, die von der Bischofskonferenz beauftragt wurde, zeigt eben nur die administrativ bekanntgewordene Spitze des Eisbergs.
Frage: Was muss jetzt passieren?
Fegert: Ich finde es schade, dass die evangelische Kirche sich jetzt vornimmt, eine eigene Studie zu machen, dass also jeder nur vor seiner Haustür kehrt. Es hat viel Kritik ausgelöst, dass Papst Franziskus in seiner Rede zum Abschluss des Anti-Missbrauchsgipfels zu Anfang relativ lang über die Anderen geredet hat. Aber er hat Recht. Sexueller Missbrauch ist ein Phänomen in allen Bereichen der Gesellschaft. Es wäre wichtig, dass wir uns den Empfehlungen der UN entsprechend Gedanken über ein übergreifendes Monitoring machen. Dafür soll die jüngste Erwachsenengruppe des jeweiligen Landes, die 18-29-Jährigen, in regelmäßigen Abständen befragt werden, ob sie in ihrer Kindheit und Jugend sexuelle Übergriffe erlebt haben. Das Nachhaltigkeitsziel ist, dass Kinder gewaltfrei aufwachsen. In Deutschland machen wir das aber nicht. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie enthält dieses Ziel gar nicht. Ich glaube, hier haben wir als Gesamtgesellschaft Defizite. Wir bräuchten regelmäßige Befragungen der gleichen Altersgruppe, um herauszufinden, ob sich die Missbrauchssituation ändert – also zum Beispiel besser wird. Das wäre auch ein Hinweis auf die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen. Dann könnten wir, wie wir schon Jugendberichte haben, auch Berichte zum Kinderschutz und zum gewaltfreien Aufwachsen in Deutschland haben. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – und das kostet Geld und sollte deshalb von möglichst vielen gemeinsam angegangen werden.