Theologe Kranemann: Liturgie kann verheerenden Klerikalismus fördern
Der Missbrauchskandal in der katholischen Kirche ist nach Ansicht des Erfurter Theologen Benedikt Kranemann auch ein Fall für die Liturgiewissenschaft. Es stelle sich die Frage, inwieweit die tagtäglich gefeierte Liturgie ein Amts- und Rollenverständnis, vor allem von Priestern, präge, das möglicherweise dazu beitrage, "dass Menschen anderen gegenüber Machtfantasien entwickeln und sie auch ausleben, bis hin zur Beschädigung der körperlichen und seelischen Integrität", sagte Kranemann am Dienstagabend in Leipzig.
Der Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Erfurt rief zu einer verschärften "Auseinandersetzung mit Liturgie und Macht" auf. Das habe die Liturgiewissenschaft für Geschichte wie Gegenwart "bislang viel zu wenig reflektiert". Dabei trete die katholische Liturgie mit dem Anspruch an, kirchliche Hierarchie nicht nur abzubilden, sondern auch zu stärken, erläuterte Kranemann.
Der Zusammenhang von sozialer Rolle, kirchlichem Amt und sakralisiertem Handeln könne zu entsetzlichen Missverständnissen führen. "Er ist mindestens dazu angetan, einen verheerenden Klerikalismus zu fördern", urteilte der Liturgiewissenschaftler. "Die Liturgie stellt ein Bild von Kirche dar und übt Rollen ein, die problematisch werden können", erklärte Kranemann. "Sie kann Klerikalismus produzieren und potenzieren. Das ist dann ein Beitrag zur Kirchenkrise."
Der Theologe äußerte sich beim Festakt zum 25-jährigen Bestehen des Liturgiewissenschaftlichen Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) in Leipzig. Seit 1994 beschäftigt sich das Institut an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig mit praxisbezogener wissenschaftlicher Forschung zu den Gottesdiensten in den evangelisch-lutherischen Kirchen.
"Ein gutes Stück Kirchenkritik leben"
Kranemann hob in seinem Vortrag auch die Bedeutung einer ökumenischen Ausrichtung der Liturgiewissenschaft hervor. "Ökumene in der Wissenschaft kann offenzulegen helfen, wo Selbstprofilierungen und Selbstüberhöhung im Gottesdienst dem Auftrag christlicher Kirchen entgegenstehen und auf Kosten des gemeinsamen christlichen Zeugnisses gehen, das heute in der Gesellschaft so notwendig wäre", sagte der Liturgiewissenschaftler.
Kranemann betonte: "Liturgiewissenschaft, die ökumenisch versiert ist, muss deshalb immer auch ein gutes Stück Kirchenkritik leben." Zudem mache die stark sinkende Zahl von Gläubigen neue Überlegungen notwendig: "Es gibt mittlerweile Gegenden in Deutschland, in denen sich aufgrund der Zahlen von Christen vor Ort die Frage stellt, ob und wann ökumenische Liturgie der Regelfall sein muss, wenn man nicht ganz auf christliches Leben in Gemeinschaft vor Ort verzichten möchte." Es werde über die Frage eines gemeinsamen Abendmahls hinaus weitere Forderungen und Notwendigkeiten geben, über Ökumene in unterschiedlichen Liturgien nachzudenken. (tmg/KNA)