Altbischof Huber: Die Krise der Demokratie beunruhigt mich
Am 9. April jährt sich der Todestag des Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) zum 74. Mal. Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hat ein Buch über den NS-Widerstandskämpfer geschrieben. Im Interview erklärt er, was ihn an der Person fasziniert, was Bonhoeffer seiner Kirche raten würde und wo er heute Gefahren für die Demokratie sieht.
Frage: Herr Huber, warum haben Sie gerade jetzt ein Buch über Dietrich Bonhoeffer geschrieben?
Huber: Ich hatte schon lange den Wunsch, das zu tun. Im nächsten Jahr jährt sich der Todestag von Dietrich Bonhoeffer zum 75. Mal. Meine Idee war es, Bonhoeffers Glauben und Leben in einem Porträt darzustellen, das Biographie und Theologie miteinander verbindet. Bonhoeffer zog aus der uns Christen gegebenen Freiheit die Konsequenz, für diese Freiheit verantwortlich einzustehen. Das macht seine Person in meinen Augen faszinierend, ermutigend und bis heute zum Vorbild.
Frage: Sie sprechen von Bonhoeffer als "Märtyrer", ein heute nicht unumstrittener Begriff. Warum?
Huber: Der Begriff "Märtyrer" hat in der Geschichte des Christentums eine positive Bedeutung, denn aus dem Griechischen übersetzt bedeutet er "Glaubenszeuge". Die Märtyrer der frühen Christenheit unterscheiden sich von anderen Christen dadurch, dass sie mit ihrem Leben für ihren Glauben einstanden. Der Begriff des Märtyrers bezeichnet also nicht einen Menschen, der durch ein Selbstmordattentat einen direkten Zugang zum Paradies zu haben meint. Der Begriff verweist auf die frühesten Christen, die Opfer von Christenverfolgungen wurden, bis zu den Christen, die heute Opfer derartiger Verfolgungen werden. Wir dürfen uns dieses Wort nicht wegnehmen lassen.
„Ich bin davon überzeugt, dass wir klarer und deutlicher davon reden müssen, was der Kern des Glaubens ist, der uns zur Präsenz in der Gesellschaft motiviert: Im Wesentlichen ist das die Nächstenliebe.“
Frage: Bonhoeffer hat über die Kirche gesagt, ihr wichtigster Zweck sei es, "Kirche für andere" zu sein. Was würde er heute zu seiner Kirche sagen?
Huber: Bonhoeffer gibt zwei Impulse für die Situation, in der wir uns heute befinden. Der eine heißt: Nüchtern wahrnehmen, in welcher Situation sich die Kirche befindet. Auf dieser Basis sollen wir zweitens mutig für die Weitergabe des Evangeliums eintreten. Für mich war und ist das immer das zentrale Thema, wenn wir über eine Kirchenreform sprechen. Nur mit der Besinnung auf den Kern unserer Aufgabe bekommen wir eine Öffnung zu den Menschen, die den Kontakt zur Kirche verloren haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir klarer und deutlicher davon reden müssen, was der Kern des Glaubens ist, der uns zur Präsenz in der Gesellschaft motiviert: Im Wesentlichen ist das die Nächstenliebe.
Frage: Bonhoeffer lehnte eine Kirche ab, die sich um sich selbst dreht. Heute gerät die Kirche immer wieder in eine öffentliche Defensive bei Themen wie Staatsleistungen oder ihrem eigenen Arbeitsrecht. Das Unverständnis darüber wächst angesichts der sinkenden Mitgliederzahlen. Ist das ein Problem?
Huber: Wir reden hier über rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, die zwar in erster Linie von den christlichen Kirchen in Anspruch genommen werden, aber jeder Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zustehen. Heute geht es um die Aufgabe, dieses Verfassungsangebot für die Gestaltung religiös-weltanschaulicher Pluralität zu nutzen. Die gegenwärtige Rechtslage gewährleistet die Freiheit der persönlichen Überzeugung und verbindet sie mit dem Recht, dem auch öffentlich Ausdruck zu verleihen. Wir müssen Menschen im Bereich der anderen Religionen dafür gewinnen, diese Gestaltungsformen zu nutzen.
Frage: Die Islam-Verbände tun sich damit schwer. Sie haben Angst, "verkirchlicht" zu werden.
Huber: Sich in einer Form zu organisieren, die durch klare Regeln des weltlichen Rechts definiert wird, bedeutet keine Verkirchlichung. Die Körperschaft des öffentlichen Rechts steht ja nicht im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Sie ist kein Wesensmerkmal der Kirche, sondern eine weltliche Rechtsfigur als Alternative zum Vereinsrecht. Der Islam kann sich entscheiden, welche der beiden Formen er nutzt.
Frage: Muss der Staat den muslimischen Gemeinschaften hier rechtlich noch entgegenkommen?
Huber: Nein, es gibt transparente und angemessene Regeln. Nordrhein-Westfalen sehe ich hier als Vorbild. Das Land hat ein eigenes Gesetz über die Voraussetzungen für den Status einer Körperschaft für Religionsvereinigungen erlassen. Das ist eine konstruktive Reaktion auf das Problem, dass es hierzulande kein Islamgesetz wie etwa in Österreich geben kann. Unsere Rechtsordnung sieht nicht vor, dass es Gesetze für einzelne Gruppen gibt, weil die Allgemeinheit des Gesetzes für unsere Rechtsordnung unerlässlich ist.
Frage: Die Weimarer Reichsverfassung sah auch die Ablösung der Staatsleistungen vor, die bis heute als Entschädigung für Enteignungen kirchlicher Güter im Zuge der Säkularisierung gezahlt werden. Immer wieder sorgen diese Zahlungen für Kritik. Wäre die Kirche besser beraten, sie würden enden?
Huber: Schon zu meiner Zeit als EKD-Ratsvorsitzender waren die Staatsleistungen nicht ganz einfach zu erklären. Aber in diesem Fall muss der Bundesgesetzgeber laut Verfassung die Grundsätze für eine Ablösung aufstellen. Er verzichtet darauf, das zu tun, möglicherweise aus Angst davor, dass es für die Länder teuer wird und er damit über Haushaltsfragen der Länder entscheiden würde. Von der Kirche zu erwarten, auf diese Staatsleistungen zu verzichten, ohne dass der Staat seiner Pflicht zur Ablösung nachkommt, verlangt eine besondere Art von Großmut.
Frage: Wir leben in aufgeregten Zeiten, und es gibt einige, die unsere Zeit mit dem Ende der Weimarer Republik vergleichen. Teilen Sie die Sorge, dass die Demokratie in Gefahr ist?
Huber: Ich bin durchaus beunruhigt mit Blick auf die heutigen Gründe für die Krise der Demokratie. Man kann sie zwar nicht direkt mit der Lage in der Weimarer Republik vergleichen. Aber aus deren Ende lassen sich im Blick auf heute drei Lehren ziehen: Eine Demokratie braucht Demokraten. Die Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen auf die Demokratie darf man nicht unterschätzen. Die Demokratie steht und fällt mit guter Politik. Von diesen drei Lehren wird die erste am wenigsten diskutiert. Wir brauchen gute Demokraten, die nicht resignieren und mit Angst auf die politischen Herausforderungen reagieren, sondern Angst in Hoffnung und Verantwortung verwandeln.
„Ich bin kein prinzipieller Gegner digitaler Kommunikation. Ich bin nur dafür, sie in Grenzen zu nutzen und mit ihr keine Heilserwartungen zu verknüpfen.“
Frage: Worin besteht die Krise der Demokratie?
Huber: Die Krise wurzelt zum einen in einer innergesellschaftlichen Polarisierung, zum anderen in einer verbreiteten Anspruchshaltung. Viele schauen vorrangig, welche Ansprüche sie dem Staat gegenüber geltend machen können, und fragen nicht, was sie selbst beitragen können. Schon die Wahrnehmung des Wahlrechts scheint zu anstrengend zu sein. Stattdessen igelt man sich in digitalen Nischen ein, in denen man sich mit Gleichgesinnten wechselseitig bestärkt.
Frage: Sie haben selbst seit längerem einen Twitter-Account, dennoch scheinen Sie ein Social-Media-Skeptiker zu sein. Was bringt Sie dazu?
Huber: Ich bin kein prinzipieller Gegner digitaler Kommunikation. Ich bin nur dafür, sie in Grenzen zu nutzen und mit ihr keine Heilserwartungen zu verknüpfen. Ich schätze die Barrierefreiheit des Internets. Aber den Autonomieverzicht, den wir dadurch bejahen, dass wir Facebook, Google und Co. kostenlos nutzen, finde ich umso problematischer, je länger er andauert.
Frage: Können Sie sich ein digitales Abendmahl vorstellen?
Huber: Nein. Das Abendmahl ist ein Ereignis, das mit der physischen Anwesenheit derer zusammenhängt, die es feiern. Dass die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl mit physischem Geschehen zu tun haben, bekräftigt den leiblichen Charakter unserer Existenz. Die Menschen werden noch glücklich darüber sein, auch in Zeiten der größten digitalen Euphorie daran festgehalten zu haben.