Antwort auf die Analyse zu Missbrauch und Kirchenkrise

Moraltheologen kritisieren Benedikt-Text: "Misslungener Beitrag"

Veröffentlicht am 15.04.2019 um 09:53 Uhr – Lesedauer: 

München/Mainz ‐ Die Kritik an der Analyse Benedikts XVI. zur Kirchenkrise reißt nicht ab. In einer Stellungnahme äußert sich nun auch die deutsche Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie: Sie spricht von einem untauglichen Beitrag und falschen Annahmen des emeritierten Papstes.

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Die deutsche Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie hat den Text Benedikts XVI. zur Missbrauchskrise scharf kritisiert. "Die Analyse von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. beruht auf einer Reihe von falschen Annahmen und wird von uns im Ganzen als ein misslungener und untauglicher Beitrag zur Aufarbeitung der Missbrauchskrise bewertet", heißt es einer am Sonntag veröffentlichten Stellungnahme.

Am Donnerstag hatten mehrere Medien einen Aufsatz des emeritierten Papstes mit dem Titel "Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs" veröffentlicht. Darin bezeichnet Benedikt XVI. den "Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie" und eine zunehmende Gottlosigkeit in Kirche und Gesellschaft seit den 1960er Jahren als Hauptursachen der Missbrauchskrise. Die ersten Reaktionen auf das Schreiben fielen mehrheitlich negativ aus.

In ihrer Stellungnahme bezeichnen die Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie, Christof Breitsameter aus München und Stephan Goertz aus Mainz, Benedikts Text als "diffamierenden Vorwurf, der das Ansehen ehemaliger und jetziger Mitglieder verunglimpft". Der Versuch, die gesellschaftlichen Umbrüche und Reformen in der Moraltheologie für den Missbrauch verantwortlich zu machen, sei dabei keineswegs neu. Bereits in der Vergangenheit habe Benedikt die Kirche als Opfer einer feindlichen Welt dargestellt. Verleugnung, Vertuschung und Deckung von Tätern blende der emeritierte Papst ebenso aus "wie die Tatsache, dass erst eine moralisch sensible Öffentlichkeit und ihre Medien die Kirche aus ihrer moralischen Lethargie wecken mussten". Aus eigener Kraft seien die kirchlich Verantwortlichen zu keiner angemessenen Reaktion oder Aufarbeitung in der Lage gewesen.

Unhistorische Verklärung der Vergangenheit

Human- oder sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Studien würden im Benedikt-Text keine Rolle spielen, so die Verfasser weiter. Der emeritierte Papst unterscheide nicht zwischen unterschiedlichen Täterprofilen. Weiter sprechen die Verfasser von einer "unhistorischen Verklärung der Vergangenheit", die Benedikt vornehme. "Es führt in die Irre zu unterstellen, in katholischen Milieus, die ganz unberührt von jeglicher sexuellen Emanzipation oder theologischen Erneuerung gewesen sind, sei Missbrauch nicht vorgekommen." Im Kirchenbild des ehemaligen Papstes hätten sündige kirchliche Strukturen, die es zu allen Zeiten gegeben habe, keinen Platz. Die Darstellung der Entwicklung der moraltheologischen Erneuerung zeuge darüber hinaus "von wenig intellektueller Anstrengung". Benedikt instrumentalisiere lediglich die Missbrauchsthematik, "um seine altbekannte Kritik an einer Moraltheologie zu wiederholen, deren Positionen im Bereich der Sexualethik er nicht teilt".

Es sei stets das Anliegen von Benedikt XVI. gewesen, in der Kirche Glaube und Vernunft nicht auseinanderreißen zu lassen, heißt es abschließend. "Seine jüngste 'Analyse' bedroht diesen Zusammenhalt, weil sie sich weigert, die moraltheologischen Anstrengungen um eine christliche Ethik der Freiheit und Verantwortung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse über sexuellen Missbrauch vorurteilsfrei zu würdigen." (tmg)

Stephan Goertz im Porträt
Bild: ©Maja Goertz

Stephan Goertz ist Professor für Moraltheologie an der Universität Mainz.

Die Stellungnahme im Wortlaut:

Gefangener seiner Vorurteile - Erklärung der Sprecher der deutschen Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie zur Analyse Joseph Ratzingers/Benedikt XVI. zum sexuellen Missbrauch

Der ehemalige Papst Benedikt XVI., Joseph Kardinal Ratzinger, möchte der durch den Skandal des sexuellen Missbrauchs erschütterten katholischen Kirche helfen. Dazu hat er am 11. April 2019 eine Analyse vorgelegt, wie es aus seiner Sicht dazu kommen konnte, dass katholische Priester und Ordensleute sexuelle Verbrechen an Minderjährigen begingen. Dabei wird auch das Fach Moraltheologie an den Pranger gestellt: Seit den 1960er Jahren habe sich ein "Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte." Als gewählte Sprecher der deutschen Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie und in Absprache mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen nehmen wir zu diesem diffamierenden Vorwurf, der das Ansehen ehemaliger und jetziger Mitglieder verunglimpft, wie folgt Stellung.

Nach Überzeugung des ehemaligen Papstes sind zwischen 1960 und 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in der Sexualmoral auf eine Weise "weggebrochen", die zu einer "Normlosigkeit" geführt hat. Eine derart moralisch haltlos gewordene Gesellschaft habe dann auch Pädophilie toleriert – ebenso wie Jugendsexualität, Empfängnisverhütung oder homosexuelles Verhalten. Die Moraltheologie habe dieser Entwicklung nichts mehr entgegengesetzt, weil sie relativistisch geworden sei und sich nicht mehr den klaren Verboten der Tradition unterworfen habe. Zudem sei man dem Irrtum verfallen, der Mensch könne ohne göttliche Instruktion und ohne die kirchliche Autorität erkennen, wie er sich menschlich zu verhalten habe.

Der Versuch von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., die gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er bis 1980er Jahre und die Reformen in der Moraltheologie für den Missbrauch verantwortlich zu machen, ist keineswegs neu. Bereits in der Vergangenheit hat er die Kirche als Opfer einer feindlichen Welt dargestellt. Dass es die in der Kirche Verantwortlichen gewesen sind, die durch Verleugnung und Vertuschung Täter gedeckt und Opfer in Kauf genommen haben, wird dabei verschwiegen. Ebenso wie die Tatsache, dass erst eine moralisch sensible Öffentlichkeit und ihre Medien die Kirche aus ihrer moralischen Lethargie wecken mussten. Aus eigener Kraft waren die Verantwortlichen in der Kirche nicht zu einer angemessenen Reaktion oder Aufarbeitung in der Lage, wie uns viele Opfer immer wieder berichten.

Die Analyse von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. beruht auf einer Reihe von falschen Annahmen und wird von uns im Ganzen als ein misslungener und untauglicher Beitrag zur Aufarbeitung der Missbrauchskrise bewertet.

(1) In den Überlegungen von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. spielen human- oder sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Studien keine Rolle. Seine Form einer entweltlichten Theologie kann das Phänomen des Missbrauchs nur verzerrt wahrnehmen. Zwischen unterschiedlichen Täterprofilen wird nicht unterschieden. Nicht alle Täter sind im medizinischen Sinne pädophil. Homosexualität als solche ist keine Ursache von Missbrauch.

(2) Es ist bekannt, dass das Phänomen des sexuellen Missbrauchs sich durch die Kirchengeschichte zieht. Es führt in die Irre zu unterstellen, in katholischen Milieus, die ganz unberührt von jeglicher sexuellen Emanzipation oder theologischen Erneuerung gewesen sind, sei Missbrauch nicht vorgekommen. Die unhistorische Verklärung der Vergangenheit muss sich für die Opfer autoritärer oder patriarchaler Strukturen zynisch ausnehmen. Im Kirchenbild des ehemaligen Papstes haben sündige kirchliche Strukturen, die es zu allen Zeiten gab, keinen Platz.

(3) Die Darstellung der Entwicklung der moraltheologischen Erneuerung zeugt von wenig intellektueller Anstrengung. Die Missbrauchsthematik wird von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. instrumentalisiert, um seine altbekannte Kritik an einer Moraltheologie zu wiederholen, deren Positionen im Bereich der Sexualethik er nicht teilt. Dabei ist ihm fehlende Bereitschaft zum sachlichen Urteil vorzuwerfen. Wer z.B. moraltheologisch bestreitet, dass eine homosexuelle Handlung in einer verbindlichen Partnerschaft immer und in jedem Fall eine schwere Sünde ist, der legitimiert nicht zugleich sexuelle Gewalt. Wer z.B. moraltheologisch den herkömmlichen Rigorismus der Verurteilung jeglicher Empfängnisverhütung kritisiert, der redet damit nicht einer Normlosigkeit das Wort. Will oder kann Ratzinger/Benedikt XVI. nicht sehen, dass die moraltheologische Wertschätzung der Würde und Rechte aller Menschen alles andere als zu moralischer Beliebigkeit führt?

(4) Wir haben es auf globaler Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Wandel von normativen Überzeugungen zu tun, nicht mit deren Verschwinden. Die "neue" wie die "alte" Ethik kennt unbedingte moralische Verpflichtungen! Der Streit geht darum, welche Handlungen aus welchen Gründen unter diese Kategorie fallen. Mit der neuen Beurteilung der Todesstrafe hat Papst Franziskus erst 2018 gezeigt, wie eine Veränderung in der Lehre möglich ist, wenn der Maßstab der Menschenwürde neu interpretiert wird.

(5) Es ist eher den jüngeren Umbrüchen in der moralischen Regulierung von Sexualität und Geschlechtlichkeit und weniger den sogenannten "traditionellen Werten" zu verdanken, dass heute jede Form von sexualisierter Gewalt moralisch und rechtlich geächtet wird. Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung ist keine Erfindung der katholischen Kirche. Die von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. glorifizierte Tradition hat den sexuellen Missbrauch in der Regel nicht aus der Perspektive der Opfer verurteilt. Ihr ging es oft mehr um die sexuelle "Reinheit" des Klerus als um die sexuelle Integrität von Kindern und Jugendlichen.

(6) Es war stets das Anliegen von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., in der katholischen Kirche Glaube und Vernunft nicht auseinanderreißen zu lassen. Seine jüngste "Analyse" bedroht diesen Zusammenhalt, weil sie sich weigert, die moraltheologischen Anstrengungen um eine christliche Ethik der Freiheit und Verantwortung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse über sexuellen Missbrauch vorurteilsfrei zu würdigen.

Prof. Dr. Christof Breitsameter, Prof. Dr. Stephan Goertz

München/Mainz, 14. April 2019