Impfpflicht: Der schmale Grat zwischen Autonomie und Allgemeinwohl
Ein Masern-Ausbruch in Hildesheim Anfang dieses Jahres hat erneut eine Debatte befeuert, die bereits seit einigen Jahren geführt wird. Es geht darum, jeden deutschen Bürger dazu zu verpflichten, sich oder seine Schutzbefohlenen, sprich Kinder, gegen Masern impfen zu lassen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt. Demnach muss jeder, der sein Kind nicht gegen Masern impfen lässt, mit einer Geldstrafe von bis zu 2.500 Euro rechnen – oder gar mit einem Ausschluss aus der Kita. Stimmen Bundestag und Bundesrat zu, soll das Gesetz zum 1. März 2020 in Kraft treten.
Die Frage, ob der Staat seine Bürger zum Impfen verpflichten kann, beschäftigen Experten in Sachen Rechts- und Ethikfragen gleichermaßen. Der Deutsche Ethikrat arbeitet momentan an einer umfassenden Stellungnahme zu dieser Thematik, die noch vor der im Juli beginnenden parlamentarischen Sommerpause veröffentlicht werden soll. Das Papier will unter anderem klären, welche Eingriffe in die Selbstbestimmung erwachsener Personen oder in das elterliche Sorgerecht sich in dieser Angelegenheit ethisch und rechtlich rechtfertigen lassen. Bei einer öffentlichen Anhörung im Februar in Berlin sagte Ethikratsvorsitzender Peter Dabrock, die Frage der Impfpflicht sei besonders relevant, "weil sie im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat hohe Rechtsgüter tangiert": das Persönlichkeitsrecht, das Recht auf die Integrität von Leib und Leben, aber auch die Erwartung an den Staat, Leib und Leben zu schützen.
Seit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Jahr 2001 besteht bundesweit eine Meldepflicht für Masern. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) lag die Zahl der Fälle im Jahr 2018 bei 543. Im laufenden Jahr sind es bis April 310 Masern-Infektionen. In den vergangenen Jahren gab es starke Schwankungen: Die Tiefstände lagen bei 165 im Jahr 2012 und 123 im Jahr 2004. 2001, also kurz nach Einführung der gesetzlichen Meldepflicht, gab es mit 6.039 Fällen den Höchststand. Eine Masern-Erkrankung kann teils schwere gesundheitliche Schäden hervorrufen. Etwa jeder zehnte Betroffene hat Komplikationen, beispielsweise Mittelohr- oder Lungenentzündungen. Je älter der Infizierte ist, desto gefährlicher wird die Krankheit. Selten kommt es auch zu Gehirnentzündungen, die tödlich enden können.
"Das Impfen liegt im Spannungsfeld zwischen individueller Autonomie und Allgemeinwohl", sagt Kerstin Schlögl-Flierl. Sie ist Professorin für Moraltheologie an der Universität Augsburg und forscht unter anderem zu medizinethischen Themen. Bei der Diskussion um die Impfpflicht sei es zunächst angebracht, zu analysieren, welcher Krankheit vorgebeugt werden soll, ob die Impfung nur einen Einzelnen betrifft oder auch Auswirkungen auf andere hat. "Die entscheidende Frage ist, inwiefern durch eine Impfpflicht aufgrund höherer Ziele in die individuelle Freiheit eingegriffen wird", betont Schlögl-Flierl.
In einigen Ländern ist für bestimmte Infektionskrankheiten wie etwa Masern die Impfpflicht bereits eingeführt worden, zum Beispiel in Frankreich oder in Italien. Neben Deutschland diskutieren auch andere Staaten darüber. Der Vatikan hat sich bislang noch nicht dezidiert zu diesem Thema positioniert. Eine spezielle Handreichung beziehungsweise eine Verlautbarung ist nicht bekannt. Allerdings gab es in der Vergangenheit die eine oder andere Stellungnahme von kirchlichen Experten zu bestimmten Gelegenheiten. So etwa bei der Vorstellung der vatikanischen "Charta der im Gesundheitsdienst tätigen Personen" 2017. Damals bezeichnete es Antonio Spagnolo, Direktor des Bioethik-Instituts der katholischen Mailänder Universität Vom Heiligen Herzen, als "soziale Pflicht", sich impfen zu lassen. Ähnliches liest man in einem Statement aus dem selben Jahr, das die Päpstliche Akademie für das Leben zusammen mit der italienischen Bischofskonferenz und einer katholischen Ärztevereinigung veröffentlicht hat. Anlass war die Einführung der Masern-Impfpflicht in Italien nach einem Ausbruch der Krankheit. Darin wird von einer moralischen Verantwortung gesprochen, "um ernsthafte Gesundheitsrisiken für Kinder und die Gesamtbevölkerung zu vermeiden".
Auf gefährdete Gruppen achten
Gerade der soziale Aspekt kommt laut Schlögl-Flierl in der aktuellen Debatte um die Impfpflicht in Deutschland zu kurz. "Aus einer achtsamkeitsethischen Perspektive heißt sich impfen zu lassen, Sorge dafür zu tragen, dass diejenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, nicht gefährdet werden." Hierbei gehe es nicht bloß um Menschen mit Immunerkrankungen, sondern auch um Babys und ältere Menschen. "Wenn man erkennt, dass man für diese besonders gefährdeten Gruppen ein potentieller Ansteckungsherd ist, wäre es eigentlich dringend geboten, über eine Impfung nachzudenken", so die Theologin.
Die Impfquoten für Kinder und Jugendliche in Deutschland waren in den vergangenen Jahren im Falle der ersten Masern-Impfung konstant hoch. Auch bei der für den Impfschutz erforderlichen zweiten Impfung sind sie kontinuierlich gestiegen. Für die erste Masern-Impfung lag 2016 die Impfquote bei Schulanfängern bundesweit bei 97,1 Prozent, sie erreichte damit das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von mindestens 95 Prozent. Bei einer Impfquote ab 95 Prozent stellt sich die sogenannte Herdenimmunität ein, die neben geimpften Personen vor allem jene schützt, die sich nicht oder noch nicht impfen lassen können. Die Impfquote für die zweite Masern-Impfung befand sich zuletzt bei 92,9 Prozent – eine Quote, die Experten allerdings für nicht ausreichend halten, um die Masern auszurotten. Dazu kommt, dass die Masern-Ausbrüche der vergangenen Jahre in Deutschland zum Teil große Impflücken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigen. Nach Ergebnissen einer Studie des Robert-Koch-Instituts sind bei den 18- bis 44-Jährigen mehr als 40 Prozent nicht gegen Masern geimpft.
Viele tun sich mit dem Impfen nach wie vor schwer. Kerstin Schlögl-Flierl kann das bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen: "Prävention ist an sich ein ungeliebtes Kind, weil man sich als gesunder Mensch erst einmal dazu aufraffen oder als Eltern entschließen muss, sein Kind impfen zu lassen." Einige führen sogar einen ideologischen Kampf gegen das Impfen – mit teilweise kruden Thesen. Ein weit verbreitetes Argument der Impfgegner: Es gehöre dazu, gewisse Kinderkrankheiten zu haben – das sei gut für das Immunsystem. Vielfach taxiert man die Risiken von Impfungen viel höher ein als die Erkrankung selbst.
Ein weiterer "Klassiker" sind die vermeintlichen Impfschäden. So fürchten Impfverweigerer, dass die Stoffe, die injiziert werden, schwere Krankheiten bis hin zu Autismus auslösen. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Laut den Daten des Paul-Ehrlich-Instituts wurden 2017 4.027 Verdachtsfälle auf Impfnebenwirkungen gemeldet, bei 46 dieser Fälle ging es um bleibende Schäden. Doch nur in acht dieser Fälle konnte ein Zusammenhang mit einer vorausgehenden Impfung nachgewiesen werden. Bei sechs Kindern kam es zur Narbenbildung infolge eines sterilen Abszesses; bei zwei Kindern, die beide drei Monate alt waren, wurde ein bis zwei Wochen nach einer Impfung gegen das Rotavirus, dem weltweit häufigsten Durchfallerreger im Säuglings- und Kleinkindalter, eine Einstülpung eines Darmabschnitts diagnostiziert, die einen operativen Eingriff erforderlich machte.
Obwohl laut Kerstin Schlögl-Flierl jede weitere Person, die geimpft wird, bedeutend ist, sei eine generelle Impfpflicht nur die "ultima ratio". Gut ausgearbeitete Kampagnen von Regierung und Wissenschaft hält sie für wirkungsvoller als Zwang. Dennoch hat für die Theologin jeder in Sachen Impfen eine gewisse Pflicht. "Die Verpflichtung wäre, sich aus sozialen Gründen die Impfung zu überlegen." Die rechtliche Pflicht könne man nicht einfordern, aber eine moralische Pflicht – aufgrund des Nächsten. "Wenn die Impfung eine Krankheit betrifft, die hochinfektiös ist wie die Masern, würde ich schon sagen, dass es im Angesicht des Anderen, der sich nicht impfen lassen kann, eine moralische Verpflichtung gibt, sich impfen zu lassen."