Was ist Wahrheit?
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Impuls von Pastor Christian Olding
Kein anderes Evangelium ist so voll von der Suche nach Wahrheit wie das Johannesevangelium. Von Anfang bis Ende durchzieht die geradezu fieberhafte Suche die Texte und gipfelt in dem Selbstanspruch Jesu: "Ich bin die Wahrheit" (Joh 14,6).
Es ist und bleibt ein sagenhafter Anspruch, den wir Christen verkünden. Wir sind der Überzeugung, dass wir im Evangelium die volle Wahrheit finden. Vor allen Dingen ist es ein gefährlicher Anspruch. Er verleitet dazu, selbstgefällig auf Buchstaben zu zeigen und damit zu meinen, man besitze die Wahrheit – besonders im Unterschied zu denjenigen, die sie eben nicht besitzen und erst recht nicht verstanden haben. Solch ein Umgang mit der Wahrheit entspringt einem ungesunden Sicherheitsstreben und endet in Fundamentalismus und Fanatismus.
Deswegen tut es gut, dass Jesus deutlich macht, dass seine Wahrheit niemals zu besitzen ist, vor allen Dingen nicht, um Menschen in Besitz zu nehmen. Er bindet die Wahrheit an sich selbst. Er ist die Wahrheit. Damit ist die Wahrheit eine Person. Es kann also keiner die Wahrheit in Besitz nehmen, sei er noch so fromm und rechtgläubig. Eine Person kann man nämlich nicht besitzen. Mit einer Person kann man eine Beziehung aufbauen, ein Gespräch suchen, Gemeinschaft haben. Aber besitzen kann man sie niemals.
Die christliche Wahrheit kann daher auch niemals ein reines Gedankengebäude oder eine Ideologie oder eine Sammlung von Erkenntnissen sein. Christliche Wahrheit ist nur in Beziehung zu finden. Deshalb verspricht Jesus seinen Jüngern an dieser Stelle den Heiligen Geist, den Beistand, der uns helfen soll in der Beziehung zu Jesus zu bleiben, damit die Wahrheit gelebt wird.
Wenn es also um die Wahrheit geht, geht es um unser gelebtes Leben. Als Pilatus Jesus fragt: Was ist Wahrheit? (Joh 18,38), da bleibt Jesus die Antwort schuldig. Wahrheit kann nicht vollkommen erfasst, sondern eben nur gelebt werden. Bei der christlichen Wahrheit heißt es daher: Sieh dir unser Leben an! Sieh, wie wir uns um die Menschen bemühen, wie wir mit Konflikten umgehen, mit eigener und fremder Schuld, wie wir nach Gerechtigkeit streben, wie wir Frieden zu schaffen versuchen. Sieh dir an, wie wir leben und sterben, dann weißt du, was unsere Wahrheit ist.
Damit schützt Jesus die Wahrheit vor dem machtbesessenen und lieblosen Zugriff der Menschen. Wahrheit darf eben nicht zum Totschlagargument werden. Man kann über die Wahrheit nicht bloß sprechen, man muss mit ihr reden und sie vor allem leben.
Aus dem Evangelium nach Johannes (Joh 16,12-15)
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird reden, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden.
Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden.