Unsere tägliche Bar gib uns heute
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Carlo, Nachname weiß ich nicht, ist gerade 73 geworden und betreibt eine der beiden Kaffeebars in unserem Häuserblock, "meine", sozusagen. Er sperrt um fünf Uhr auf und selten vor 19 Uhr zu. Letztens beim Nachhausekommen sehe ich eine Rettung mit offenen Hintertüren genau zur Bar hin, am Boden eine leere Krankentrage, und zwei orangeweiße Sanitäter machen sich, ohne Hast, am Boden hinter der Kasse zu schaffen. An Carlos Platz. Hilfe! Stoßgebet. Es ist nicht der Moment, Fragen zu stellen. Am nächsten Tag ist die Bar zu.
Das habe ich bei Tageslicht noch kein einziges Mal gesehen in den Jahren, die wir hier wohnen. Rollbalken vor meiner Bar! Meine Bar hinter Rollbalken! In die Sorge um Carlo mischt sich eine Form von Zukunftsangst. Wenn die Bar zu ist, gerät das Leben aus den Fugen, denn der Tag beginnt mit einem Misston, einer unguten Lücke, einem erzwungenen Verzicht, der nichts Gutes verheißt für den Mittag und den Abend und perspektivisch für alle folgenden Rollbalkentage, weiß Gott wie viele, man will es sich nicht ausmalen und kann doch nicht anders: In der schlimmsten aller Hypothesen – und nur die schlimmsten kommen auf bei Rollbalken am helllichten Tag – hat Carlo seinen Kaffee schon ausgeschlürft, und in zwei Monaten eröffnet anstelle der Stammbar ein Souvenirshop. Grundgütiger!
Wer sich wundert über diesen inneren Abwärts-Sog infolge einer Banalität, eines Lokals, das mal ein paar Tage zu hat, muss eines wissen: Eine geschlossene Stammbar ist in Rom eine Attacke auf mehr als bloß unsere Morgenroutine. Sie ist Verrat. Sie ist der als boshaft empfundene Entzug eines Ortes, auf den wir ein Anrecht zu haben meinen.
Grundrecht des römischen Bürgers
Ja, die Bar gilt als eine Art Grundrecht des römischen Bürgers. Sie ist ein sicherer Hafen im täglichen Chaos dieser Stadt. Wo der Bus mal fährt, mal nicht, wo ein Urlaubstag draufgeht, wenn man einen neuen Reisepass braucht, wo die Schule geschlossen bleibt, weil sie gestern als Wahllokal diente und folglich heute geputzt werden muss, und wo Ratten und Möwen zuverlässiger arbeiten als manchmal die Müllabfuhr, da ist die Bar ein Hort freundlicher Ordnung, eine Pufferzone gegen das Ärgernis des urbanen Außenraums, ein cordon sanitaire verbriefter Sicherheiten.
Auf die Bar ist Verlass. Bei munterem Tassengeklapper wird der Espresso so gebrüht und serviert, wie man es seit jeher wünscht, duftend und lungo ma non troppo steht er im Nu auf dem Tresen und kostet fast nichts, denn die Bar ist von der Idee her eine allen zugängliche Institution. Nebenbei taugt sie als Nachrichtenzentrale, Schlüsselübergabestelle, Touristeninfo, Treffpunkt für Interviewgäste, zur Not als Milch- und Proseccoquelle, und anschreiben lassen kann man als Stammgast auch. Hier bin ich Mensch, hier kehr ich ein. Es sind die persönliche Ansprache und das Ineinander reibungslos funktionierender Dienste, die aus einer noch so durchschnittlichen römischen Kaffeebar einen sakrosankten Ort machen. Unsere tägliche Bar gib uns heute. Unsere tägliche Bar kann nicht einfach zu sein.
Nach einer Woche sind die Rollbalken wieder oben. Mit fast ein wenig Herzklopfen trete ich ein. An der Kasse sitzen zwei jüngere Frauen, Carlos Töchter, wie sich herausstellt. Dem Vater geht es nicht gut, aber immerhin schon besser. Einstweilen schmeißen die Töchter den Laden für ihn, der mit seinem Arbeitsplatz wie verwachsen war und von Montag bis Sonntag kaum Zeit für die Familie hatte. Freudig, erlöst und ohne viele Worte das Wiedersehen mit Massimo, dem Barista. Der Espresso lungo ma non troppo schmeckt gut wie nie, im Mienenspiel der übrigen Stammgäste, die sich eingefunden haben, lese ich meine eigene frohe Zuversicht. Die Ängste und Zweifel der barlosen Zeit sind fürs erste gebannt. Carlo, komm bald wieder! Deine Leute brauchen dich.