Israel: Demokratie und Judentum im Konflikt
"Natürlich will ich, dass der Staat Israel auf lange Sicht gemäß dem jüdischen Recht regiert wird; so muss es in einem jüdischen Staat sein", erklärte der israelische Politiker Bezalel Smotrich im vergangenen Monat. Und seine Worte gingen als Schockwelle durch die israelische Gesellschaft. Er ist Vorsitzender der an der Regierungskoalition beteiligten, orthodoxen, ultranationalistischen Siedlerpartei Tekuma – und zu dem Zeitpunkt, als er seine Forderung aufstelle, galt er als möglicher Kandidat für die vakante Position des Justizministers. Seine Forderung, dass der Staat gemäß den im Alten Testament und der jüdischen Tradition überlieferten Gesetz geführt werden solle, wurde von einem breiten Konsens der politischen Parteien und der Gesellschaft zurückgewiesen.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu versuchte jedwede weitere Diskussion über Smotrichs Forderung direkt durch ein klares Statement auf Twitter zu unterbinden: "Der Staat Israel wird kein halachischer Staat sein" – der Staat werde nicht durch die Gesetze des Alten Testaments und der jüdischen Religionstradition bestimmt. Kurz danach ernannte er erstmals in der Geschichte des Staates Israel einen sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekennenden Politiker zu einem Minister, indem er Amir Ohana als neuen Justizminister einsetzte. Und Bezalel Smotrich wurde bis zu den Neuwahlen am 17. September zum Verkehrsminister ernannt.
In Bezalel Smotrich Worten spiegelt sich aber eine Grundfrage im Staat Israel wider, die sich durch dessen gesamte Geschichte zieht – von der Staatsgründung bis zum gegenwärtigen Wahlkampf. Und sie wird auch in Bezalel Smotrichs Forderung deutlich: "Der Staat Israel und der Staat des jüdischen Volkes werden umkehren, um so regiert zu werden, wie er in den Tagen König Davids und König Salomos regiert wurde - nach dem Thoragesetz, selbstverständlich in Übereinstimmung mit unserer Gegenwartsrealität, unseren Herausforderungen und unserer Wirtschaft und wie die Gesellschaft im Jahr 2019 lebt." Was bedeutet es, dass der Staat sich als demokratisch und jüdisch definiert?
Was bedeutet die Unabhängigkeitserklärung Israels?
Die Unabhängigkeitserklärung Israels vom 14. Mai 1948 beginnt mit der klaren historischen Aussage: "Im Land Israel entstand das jüdische Volk" – und der gesamte folgende Text bezieht sich auf die Geschichte des Judentums. Aber über die Frage, ob ein Gottesbezug Bestandteil des Dokuments sein soll, entbrannte damals ein heftiger Streit. Die religiösen Vertreter bestanden darauf, während die sozialistisch-säkularen Vertreter strikt dagegen waren. Man einigte sich schließlich auf die Bezeichnung "Fels Israels" – und formulierte den Beginn des Abschlussparagrafen folgendermaßen: "Mit Zuversicht auf den Fels Israels setzen wir unsere Namen zum Zeugnis unter diese Erklärung, […]". Zwar nahm man damit die traditionelle und biblische Sprache des Judentums auf, verblieb aber gleichzeitig in einer Bildsprache, die vom Leser selbst entschlüsselt und mit Sinn gefüllt werden muss.
Juden und Jüdinnen beten vor dem Achtzehnbittengebet, dem Hauptgebet des jüdischen Gottesdienstes: "Fels Israels, erhebe Dich zur Hilfe Israels!" Diese Bitte nimmt die Sprache des biblischen David aus 2 Sam 23,3 auf: "Der Gott Israels sprach, zu mir sagte der Fels Israels: […]." Dieser Vers ist eindeutig: Gott ist sozusagen der Fels in der Brandung für das Volk Israel. Aber David Ben-Gurion, der erste Ministerpräsident des neuen Staates, deutete die Bezeichnung mehrfach als symbolisch-säkularen Bezug auf die Stärke Israels.
Bereits in der Bibel kann "Fels Israels" mehrdeutig verstanden werden. In Jes 30,29 heißt es: "[…] ihr werdet Freude im Herzen tragen wie der, der mit Flötenspiel dahinzieht, um auf den Berg des HERRN zu kommen, zum Fels Israels." Man kann diesen Vers auf zweierlei Art lesen: Entweder bezieht man "Fels Israel" in Parallele zu der Bezeichnung "Berg des Herrn" auf den Zionsberg mit dem Tempel oder man identifiziert den "Fels Israels" mit Gott, der auf dem Zion im Tempel als anwesend gedacht wird. Diese Offenheit der Bildsprache ist es, die den Kompromiss in der Unabhängigkeitserklärung Israels ermöglicht hat, so dass aber auch die Frage nach der Identität konstitutiv zum Staat dazugehört.
Israel ist ein jüdischer Staat – aber was genau das "Jüdische" an diesem Staat ist, bleibt für die israelische Gesellschaft weiterhin eine offene Frage. Der Unabhängigkeitserklärung von 1948 folgte der erste arabisch-israelische Krieg, in dem eine militärische Allianz bestehend aus ägyptischen, syrischen, libanesischen, jordanischen und irakischen Streitkräften den neuen Staat angriff. Jedoch nicht nur aufgrund des Krieges, sondern auch aufgrund politischer Kontroversen, unter anderem über die Identität des jungen Staates, wurde die Absicht, noch im selben Jahr dem Staat eine Verfassung zu beschließen, nicht umgesetzt.
Da sich kein Konsens abzeichnete, schlug der Knesset-Abgeordnete Yizhar Harari am 13. Juni 1950 einen Kompromiss vor, der vom Parlament als Resolution angenommen wurde: Die entstehende Verfassung des Staates Israel soll aus einzelnen Kapiteln bestehen, die jeweils als selbstständige Grundgesetze verabschiedet und am Ende dieses Prozesses als Verfassung zusammengefasst werden sollen. Bis zum Jahr 1985 waren zwar verschiedene Grundgesetze verabschiedet, eine umfassende Verfassung dagegen nicht. Um den demokratischen Charakter des Staates festzuschreiben, wurde daraufhin zum bereits 1958 erlassenen Grundgesetz über die Verfasstheit der Knesset, das Einkammerparlament Israels, ein Zusatz beschlossen, der Israel als einen "jüdischen und demokratischen Staat" definiert. Bis 1995 hatten die erlassenen Grundgesetze keinen verfassungsrechtlichen Charakter. Und der Formulierung, die auch in den 1992 verabschiedeten Grundgesetzen über die freie Berufswahl sowie über Menschenwürde und Freiheit verwendet wurde, kam kein besonderer rechtlicher Status zu. Durch einen Rechtsspruch Aharon Baraks, des damaligen Präsidenten des Obersten Gerichts in Israel, wurden dann allerdings 1995 alle Grundgesetze dem gewöhnlichen Recht übergeordnet. Die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Judentum wurde durch diese Entscheidung erneut zu einer Frage in der innenpolitischen Auseinandersetzung.
Ein besonders umstrittener Abschnitt
Am 19. Juli vergangenen Jahres beschloss das israelische Parlament das sogenannte Nationalstaatgesetz. Darin legt Israel seine Staatsymbole, seine Feiertage, das Einwanderungsrecht aller Juden und vieles weiteres fest, was bereits zuvor schon gesetzlich geregelt war. Seit der Verabschiedung ist das Gesetz jedoch umstritten, da zwar der Staat demokratisch konstituiert ist, dieses spezifische Gesetz jedoch weder den demokratischen Charakter des Staates erwähnt noch den besonderen Schutz der darin lebenden Minderheiten. "Das Recht auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel ist dem jüdischen Volk eigen", heißt es im ersten Paragrafen. Nicht nur innerisraelisch, sondern auch innerjüdisch ist das Gesetz umstritten: "Wir sind beunruhigt darüber, dass das Gesetz, das den grundlegenden jüdischen Charakter des Staates feiert, bedeutende Fragen über das langfristige Engagement der Regierung für ihre pluralistische Identität und ihren demokratischen Charakter aufwirft," erklärte Jonathan Greenblatt kurz nach der Verabschiedung dieses Grundgesetzes. Er ist Direktor der Antidiffamierungsliga, einer amerikanischen Organisation, die gegen Diskriminierung und Diffamierung von Juden eintritt.
Ein besonders umstrittener Abschnitt, der dem politischen Denken Bezalel Smotrich nahesteht, wurde aus dem Gesetzentwurf kurz vor der Verabschiedung noch herausgestrichen. Bereits seit 1980 gilt in Israel ein Gesetz, das vorschreibt, rechtliche Lücken für eine Urteilsfindung durch Analogie oder, wenn dies nicht möglich ist, durch Bezug auf die "Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Fairness und des Friedens entsprechend der Tradition Israels" zu entscheiden. Ein späteres Gerichtsurteil erklärte, dass unter diesen Prinzipien jedoch nicht die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, zu verstehen ist. Im ursprünglichen Entwurf des Nationalstaatgesetzes sah das jedoch anders aus. Es enthielt einen Verweis auf "die Prinzipien des hebräischen Rechts". Rechtsberater der Regierung wiesen jedoch daraufhin, dass diese Formulierung zu Spannungen führen würde, im Besonderen zwischen der Perspektive des jüdischen Religionsgesetzes auf Frauen und Nicht-Juden und den Prinzipien moderner demokratischer Rechtssysteme.
Wie umstritten religiöse Themen im Staat Israel grundsätzlich sind, ist zuletzt auch am Scheitern der Koalitionsgespräche nach den Wahlen am 9. April deutlich geworden. Der ehemalige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman gewann mit seiner säkular-nationalistischen Partei Jisra’el Beitenu bei der Wahl fünf Mandate, auf die der jetzige israelische Premierminister Netanyahu angewiesen war, um eine neue Regierung zu errichten. Die Wähler der Jisra’el Beitenu – vor allem russische Einwanderer – fordern eine stärkere Trennung von Staat und Religion.
Im September 2017 hatte der Oberste Gerichtshof ein Gesetz für unrechtmäßig erklärt, das ultraorthodoxe, in Religionsschulen eingeschriebene Talmudstudenten von der in Israel geltenden allgemeinen Wehrpflicht befreit. Mit einem Ultimatum versehen verpflichtete das Gericht eine gesetzliche Neuregelung der Wehrpflicht. Als damaliger Verteidigungsminister legte Avigdor Lieberman einen neuen Gesetzentwurf vor, der eine steigende Prozentzahl wehrdienstleistender, ultra-orthodoxer Talmudstudenten festlegt. Gleichzeitig sollte das Budget, das der Staat den Religionsschulen zur Verfügung stellt, gekürzt werden, falls diese festgelegten Vorgaben unterschritten werde.
Das Ultimatum des Obersten Gerichtshof musste jedoch verlängert werden, da keine Mehrheit in der Regierung für eine Lösung gefunden werden konnte. Dies war einer der Gründe, warum es am 9. April zu vorgezogenen Neuwahlen kam. In den darauffolgenden Koalitionsverhandlungen forderte Avigdor Liebermann, dass sein Gesetzentwurf in vorliegender Form in der kommenden Legislaturperiode beschlossen werde. Die ultra-orthodoxen Parteien, auf deren Stimmen Benjamin Netanyahu ebenso angewiesen war, lehnten das Gesetz jedoch weiterhin ab. Da die Parteien sich nicht einigen konnten, wird Israel am 17. September somit zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres eine neue Knesset wählen. Für Avigdor Liebermann war die Frage nach der Wehrpflicht für ultra-orthodoxe Talmudstudenten ein "Symbol" für den Kampf gegen einen zu großen Einfluss der Religion auf die Politik in Israel. In einem Fraktionstreffen verwies er zum Beleg auf die Forderungen der ultraorthodoxen Parteien, die Baumaßnahmen in Tel Aviv samstags einzuschränken und die Öffnung des Jerusalemer Bibelzoo am jüdischen Ruhetag zu verbieten.
Schwierige Balanceakt zwischen säkulären und religiösen Lebensstilen
Im Staat Israel und in seiner Gesellschaft gilt es einen schwierigen Balanceakt zwischen den verschiedenen säkulären und religiösen Lebensstilen zu meistern. Die Konfliktpunkte sind zahlreich. Es ist sogar umstritten, wer in Israel ein Jude ist. Seit 1950 gilt das Rückkehrgesetz, das die Einwanderung von Juden und Jüdinnen reguliert und durch das in der geltenden Fassung von 1970 jedes Kind und jeder Enkel eines Juden als jüdisch anerkennt wird. Gemäß dem jüdischen Religionsgesetz wird das Jude-Sein jedoch ausschließlich durch das Abstammen von einer jüdischen Mutter oder durch Konversion bestimmt. So erkennt das israelische Oberrabbinat beinahe von einer halben Millionen Israelis deren jüdische Identität nicht an. Für diese Personen bedeutet dies zum Beispiel, dass sie in Israel nicht heiraten können, da es keine staatliche Eheschließung gibt. Zwar ist das israelische Oberrabbinat ein Teil des israelischen Justizsystems und untersteht dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten, aber das Eherecht liegt nicht in den Händen des Staates, sondern eben der vom Staat anerkannten religiösen Autoritäten.
Auch im Alltag ist der schwierige Balanceakt zwischen jüdischer Religion und Staat gegenwärtig. Während zum Beispiel am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, in Haifa selbstverständlich die öffentlichen Verkehrsmittel fahren, gibt es von Freitagnachmittag bis Samstagabend weder in Tel Aviv noch in Jerusalem öffentliche Busse oder Straßenbahnen. An der Frage, ob am jüdischen Ruhetag öffentliche Verkehrsmittel für die Bürger und für die Touristen zur Verfügung stehen, entscheidet sich nicht der jüdische oder der demokratische Charakter des Staates. Doch selbst anhand dieses kleinen Details wird die weiterhin auch in der Gesellschaft unbeantwortete Frage deutlich: Was bedeutet es, wenn der demokratische Staat Israel sich als "jüdisch" definiert? Und dies ist eine Frage, die in Israel sowohl die Politik als zum Teil auch den Alltag bestimmt.