"St. Maria als" – eine Kirche für (fast) alle Fälle
Es bröckelte gewaltig in der Stuttgarter Kirche St. Maria. Nicht nur eine Innensanierung in Höhe von vier Millionen Euro rückte immer näher – auch das Gemeindeleben im Süden der Innenstadt brach weiter zusammen. Im Jahr 2017 besuchten noch etwa 50 Männer und Frauen regelmäßig die Sonntagsmesse – ein Prozent der Gemeindemitglieder. Da gleichzeitig noch weitere Kirchen und Gemeindehäuser saniert werden mussten, stellte sich die Frage, warum das Geld ausgerechnet in die Kirche St. Maria investiert werden sollte. Was kann genau diese Kirche den Menschen bieten?
Von vornherein galt: Über die notwendige Sanierung kann erst entschieden werden, wenn ein überzeugendes inhaltliches Konzept für St. Maria steht. "Nur als Gemeindekirche", sagt Stadtdekan Christian Hermes. Das Geld für die Sanierung wird zum Großteil gemeinsam von allen Stuttgarter Kirchen bezahlt. Zur Entwicklung dieses Konzept wandte sich die Gemeinde an die Menschen in ihrer Stadt. "Wir haben eine Kirche – haben Sie eine Idee?" – so lautete der Slogan. Es entwickelte sich das Projekt "St. Maria als".
Picknick, "Silent Disco" oder Trampolinhalle
Zu dem Aufruf gab es zahlreiche Rückmeldungen: St. Maria als Ort für ein Picknick, als "Silent Disco" – also Tanzen mit Kopfhörern –, als Trampolinhalle, als Stadt-Oase, als Kleiderkammer für Bedürftige. Die Bänke wurden aus der Kirche entfernt und all diese Ideen durften ab Mai 2017 in die Tat umgesetzt werden. In dieser Erprobungsphase nutzten Künstler, ortsansässige Gruppen und Vereine sowie Institutionen wie die Universität Stuttgart das Gotteshaus für insgesamt 64 Veranstaltungen. Grenzen gab es zunächst keine, da der Raum selbstbestimmt zur Verfügung gestellt werden sollte.
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"Erstmals kamen dadurch unter der Woche mehr Menschen in die Kirche als am Wochenende", sagt Stadtdekan Christian Hermes. Und: "Die Kirche wurde wieder lebendig, sie gewann an Ausstrahlung." Neben der Euphorie der Verantwortlichen schlug dem Projekt aber auch lautstarke Kritik aus konservativen Kreisen entgegen. Die Kirche werde profaniert und zur Räuberhöhle gemacht, hieß es da etwa. Nachvollziehen kann Hermes diese pauschale Aussage nicht. Er sagt aber auch, dass manche der Veranstaltungen in der Erprobungsphase dann doch nicht im Sinne des Projektteams und des Stadtdekanats abliefen. Im Oktober 2018 habe er deshalb Spielregeln angepasst. So sollte in der Kirche etwa kein Bier mehr getrunken und auch nicht getanzt werden.
Anhand der pastoraltheologischen Grundgedanken und der Eindrücke aus der zweijährigen Erprobungsphase wurde für "St. Maria als" das detailliertes Projektkonzept entwickelt. Damit sollen die Kirchengemeinden, das Stadtdekanat und das Bischöfliche Ordinariat davon überzeugt werden, dass sich eine Sanierung der Kirche lohnt. Nachdem im Januar 2017 der Verputz des Gewölbes untersucht und für vorerst sicher erachtet wurde, wurde die Sanierung der Kirche auf 2023 angesetzt. Doch bevor das entschieden wird, stimmen die kirchlichen Gremien auf den unterschiedlichen Ebenen erst über das erarbeitete Konzept ab.
Gemeinde "mitten in einem Kirchenentwicklungsprozess"
Da die Kirchengemeinde und der Gesamtkirchengemeinderat schon einstimmig zugestimmt haben, liegt die Entscheidung beim Dekanat und dem Bischöflichen Ordinariat. Bis spätestens Herbst dieses Jahres sollen sie ihr Votum abgeben. Stimmen sie zu, kann ein Konzept erarbeitet werden, damit das Gotteshaus den Anforderungen der offenen Kirche entspricht. "Wenn es scheitert, dann wird der gesamte Planungsprozess wieder auf Los zurückgesetzt", sagt Hermes.
Pastoralreferent Andréas Hofstetter-Straka, der für das Projekt zuständig ist, erwartet die Entscheidung gespannt. Schließlich befinde sich die Gemeinde wie viele in Deutschland "mitten in einem Kirchenentwicklungsprozess". Während das Projekt die Stuttgarter Bürger vor die Frage der konkreten Nutzung des Kirchraums stellt, wirft es für die Kirche selbst viel tiefgreifendere, grundsätzlichere Fragen auf: Wozu ist ein Kirchenraum da? Was ist dort geboten und erlaubt? Wie geht die Kirche darauf ein, dass immer weniger Menschen eine Kirche betreten?
„Wenn Friseure in der Kirche Obdachlosen kostenlos die Haare schneiden, dann ist das genauso heilig wie die Messfeier am Sonntag.“
Der Tübinger Pastoraltheologe Michael Schüßler antwortet, dass die Frage, was in einer Kirche erlaubt ist, schon falsch gestellt sei. "Vielmehr geht es darum, was notwendig ist, damit die kirchlichen Orte heute Orte des Evangeliums sein können", sagt Schüßler, der die Projektgruppe beraten hat. Es müssten Orte sein, "an denen die Menschen entdecken, dass dort etwas Wichtiges passiert, dass sie in ihrer Biografie weiterbringen kann".
In St. Maria Stuttgart wird weiterhin die Messe gefeiert. Der Altarraum und die Seitenkapelle, in der sich der Tabernakel befindet, sind weiterhin "Hotspots des Heiligen", wie Stadtdekan Hermes es ausdrückt. Bei jeder Aktion in der Kirche müsse es daher einen Bezugspunkt geben, der für die christliche Botschaft anschlussfähig sei. Hermes sagt: "Wer in die Kirche reinkommt, muss sich schon mit dem heiligen Raum und der Botschaft, für die wir stehen, auseinandersetzen. Das darf aber auch kritisch sein." Außerdem glaube er, dass die Gegenwart Gottes in der Eucharistie so stark sei, dass sie nicht beschädigt werde, wenn jemand Kleider an Bedürftige verteile.
Ereignisbasierte Pastoral als Zukunft der Kirche?
Das Projektteam fordert, die Unterscheidung von sakralen und weltlichen Räumen aufzubrechen. "In dem Moment als Jesus stirbt, zerreißt der Tempelvorhang. Da heißt die Trennung zwischen dem Allerheiligsten und dem Rest der Welt wurde aufgehoben", argumentiert Hofstetter-Straka. Die Kirche – kein sakraler Raum mehr? Der Pastoralreferent kategorisiert St. Maria in Stuttgart als "heiligen, heilenden Raum". Schüßler unterstützt ihn dabei. Er glaubt, dass es einen neuen theologischen Begriff des Heiligen braucht. Denn Heiliges passiere auch an profanen Orten. So vergleicht er: "Wenn Friseure in der Kirche Obdachlosen kostenlos die Haare schneiden, dann ist das genauso heilig wie die Messfeier am Sonntag."
Mit DJ-Workshops, Theatervorstellungen und Kunstperformances ist das Gotteshaus zum multifunktionalen Ort geworden. Dort werden wieder die Themen diskutiert, die die Stadtgesellschaft umtreiben: vor allem Mobilität und das Wohnen in der Stadt. "Es geht um Fragen der Umweltbelastung, der gerechten Verteilung von Wohnraum und Vermögen", sagt Hofstetter-Straka. Ein Beispiel dafür ist eine Fotoausstellung zum Leben der Sinti und Roma in Deutschland, die für die Lebensrealität der Menschen sensibilisiere. Der Pastoralreferent erinnert sich daran, wie sich der Europaabgeordnete Romeo Franz, selbst Sinti und Roma, dafür bedankt habe, dass die Kirche ihnen die Türen geöffnet habe.
Mit "St. Maria als" wird Kirche neu und anders zum Ereignis. "Die ereignisbasierte Pastoral ist eine wegweisende Möglichkeit, wie sie im urbanen Raum noch funktionieren kann", sagt Schüßler. So hat die Kirchengemeinde St. Maria ihren Fokus bewusst nicht darauf gelegt, Menschen für sonntäglichen Kirchgang oder für das Engagement im Pfarrgemeinderat zu rekrutieren. Hermes begründet: "Wenn wir einen Schritt zurückgehen, den Menschen den Raum öffnen und nicht gleich mit unserer Botschaft konfrontieren, dann entdecken die Menschen unsere Botschaft selbst."
Bislang einmaliges Projekt
Pastoraltheologe Schüßler warnt in diesem Zusammenhang davor, die kleinen, flüchtigen Begegnungen und Momente abzuwerten: "Offensichtlich haben wir verlernt, darauf zu vertrauen, dass Gott in der Welt wirkt", sagt er. "Weil wir denken, dass Gott eher an den Orten des kompakten kirchlichen Lebens ist als außerhalb." Für ihn ein Trugschluss, den er damit begründet, dass Jesus viele Menschen, die er geheilt habe, zurück in ihr Leben geschickt und sie nicht zu Jüngern berufen habe. Auch Papst Franziskus verkünde immer wieder, dass Gott in der Stadt wohne und wir ihn nicht in die Stadt bringen müssten.
Das Projekt "St. Maria als" ist durch die Offenheit und Vielfalt in Deutschland bisher einmalig. Kirchengemeinde und das Stadtdekanat bezeichnen die Einbindung in das Leben des Stadtteils als Erfolg. Man sei aber "nur ein Beispiel dafür, wie Kirche im 21. Jahrhundert sein kann", sagt Pastoralreferent Hofstetter-Straka. "Wir möchten nicht sagen, dass es die Kirche so rettet." Pastoraltheologe Schüßler stimmt dem zu. Ohnehin brauche es den einen, groß angelegten Plan für die Zukunft der Kirche nicht mehr. "Kirche wird gerade in den Ortskirchen neu entdeckt und entwickelt. Kirche wird vielfältiger. Da wird die Frage sein, ob die verschiedenen Formen gegenseitig abgewertet werden, oder ob man entdeckt, dass verschiedene Arten von der gleichen Tradition her entworfen werden." Somit bleibt "St. Maria als" ein einzelnes Projekt, das in einem Stadtteil wirkt – und doch Inspiration und Mut zum Neuen spenden kann.