Warum die Berliner Mauer über den katholischen Domfriedhof führte
Wer es nicht besser weiß, könnte die Berliner Liesenstraße für einen ziemlich unbedeutenden Ort halten. Gerade mal rund 500 Meter ist die Straße auf der Grenze der beiden Stadtteile Gesundbrunnen und Mitte lang. Wohnhäuser gibt es hier kaum, dafür am einen Ende eine Tankstelle und am anderen eine rostige alte Eisenbahnbrücke.
Doch tatsächlich ragt die Liesenstraße aus der Masse der Berliner Straßen heraus – vor allem aus historischer und religiöser Perspektive. Denn obwohl sie nur kurz ist, liegen an ihr gleich vier bedeutende Friedhöfe, darunter mit dem Alten Domfriedhof der St.-Hedwigs-Gemeinde die wohl wichtigste katholische Begräbnisstätte der Stadt. Hinzu kommt, dass die Straße und die Friedhöfe bis zum 9. November 1989 mitten im Todesstreifen der Berliner Mauer lagen. Die dadurch geschlagenen Narben kann man auch heute noch sehen.
Platz für neue Friedhöfe
Doch von Anfang an: Angelegt wurde die nach dem Berliner Gastwirt Carl Adolf Friedrich Liesen benannte Straße im Jahr 1826. Zu dieser Zeit befand sich die Straße am nördlichen Stadtrand Berlins und das umliegende Gebiet war städtebaulich noch kaum erschlossen. Für die Berliner Kirchengemeinden bot sich das vorhandene Wiesenland deshalb als Alternative zu den bestehenden innerstädtischen Friedhöfen an, da die zu diesem Zeitpunkt kaum noch Platz für neue Gräber boten.
Der erste Friedhof, der in der Straße eröffnet wurde, war 1830 der evangelische Domfriedhof I. Er sollte einen heute nicht mehr existierenden Begräbnisplatz in der Nähe des Alexanderplatzes ablösen, wo auch das ehemalige Domhospital stand. Mit einer Fläche von etwa einem Hektar ist der Domfriedhof I der kleinste der Friedhöfe an der Liesenstraße. Im Gegensatz zu vielen anderen Berliner Begräbnisstätten kann er kaum mit Prominentengräbern aufwarten. Stattdessen sind hier überwiegend Vertreter der Domgemeinde und einige unbekanntere Künstler bestattet. Ein Hingucker auf dem teilweise parkähnlich anmutenden Gelände ist jedoch seit 2006 das alte Kuppelkreuz des Berliner Doms, das damals wegen Rostschäden von der Kuppel entfernt werden musste und stattdessen auf der Rasenfläche im vorderen Bereich des Friedhofs aufgestellt wurde.
Vier Jahre nach dem evangelischen Domfriedhof wurde in unmittelbarer Nachbarschaft der Domfriedhof der katholischen St.-Hedwigs-Gemeinde eröffnet. Er ersetzte den ersten katholischen Friedhof der Stadt am Oranienburger Tor, der heute nicht mehr existiert. Somit ist die etwas über zwei Hektar große Begräbnisstätte, die im Osten an die ehemalige Bahnstrecke Berlin-Stettin grenzt, heute der älteste noch bestehende katholische Friedhof Berlins und für die Katholiken der Stadt ein wichtiger Erinnerungsort.
Dompropst Bernhard Lichtenberg wurde 1965 umgebettet
Wer das Gelände von der Straßenseite aus betritt, sieht zuerst zwei große, kniende Marmorengel, die von dem Bildhauer Josef Limburg geschaffen wurden, der unmittelbar dahinter auch begraben liegt. In der Mitte des Friedhofs steht eine kleine Kapelle, die 1866/1867 nach dem Vorbild italienischer Renaissancebauten errichtet und 1987 – nachdem sie zuvor jahrzehntelang wegen Baufälligkeit nicht genutzt werden konnte – originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die auf dem Domfriedhof bestattet sind, zählen der Maler Peter von Cornelius – ein Hauptvertreter des Nazarener-Stils –, der Hotelier Lorenz Adlon und der 2013 verstorbene Unternehmer Peter Dussmann. Einst war hier zudem der seliggesprochene Dompropst Bernhard Lichtenberg bestattet, doch 1965 wurde sein Leichnam in die Hedwigs-Kathedrale umgebettet.
Als dritter Friedhof an der Liesenstraße kam 1835 der Friedhof II der Französisch-Reformierten Gemeinde hinzu. Das knapp über einen Hektar große Gelände löste einen alten Begräbnisort an der Chausseestraße ab. Der Friedhof II ist in der Straße der Ort mit dem prominentesten Grab, denn hier hat 1898 Preußens Großschriftsteller Theodor Fontane seine letzte Ruhe gefunden; neben ihm liegt seine 1902 verstorbene Frau Emilie. Das Grab der beiden wurde im Zweiten Weltkrieg zwar zerstört, später jedoch neu angelegt.
1842 schließlich wurde mit dem Dorotheenstädtischen Friedhof II der letzte Begräbnisort an der Liesenstraße eröffnet. Zu den wichtigsten Grabstätten dieses Friedhofs, der als einziger auf der nördlichen Straßenseite liegt, gehören das Mausoleum für den Zirkusdirektor Paul Busch und das Grab von Otto Nicolai, dem Gründer der Wiener Philharmoniker.
Der Mauerbau bedeutete eine tiefe Zäsur
Der Bau der Berliner Mauer rund 120 Jahre später – am 13. August 1961 – bedeutete auch für die Liesenstraße und ihre vier Friedhöfe eine tiefe Zäsur. Da die Straße seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genau auf der Grenze zwischen Ost und West lag, wurde sie durch die Mauer fast vollständig abgesperrt. Von den Friedhöfen war nach dem Mauerbau nur noch der im Westteil der Stadt gelegene Dorotheenstädtische Friedhof II frei zugänglich. Er wurde durch die Mauer jedoch von seiner Gemeinde in Ost-Berlin getrennt.
Die Eingänge zu den drei anderen Friedhöfen wurden durch die Grenzanlagen der DDR geschlossen. Die im Grenzstreifen liegenden Gräber wurden auf einer Breite von rund 40 Metern vollständig abgeräumt. Auf dem Gelände wurde stattdessen – zum Teil mit abgebauten Grabsteinen – ein Kolonnenweg angelegt, der von den Fahrzeugen der DDR-Grenzpatrouillen genutzt wurde. Der Zugang zu den drei Friedhöfen war nur noch über einen kleinen Eingang in der südlich gelegenen Wöhlertstraße möglich und auch nur direkten Angehörigen der hier beerdigten Personen unter strengen Auflagen gestattet. Kurzzeitig gab es sogar Pläne, die Friedhöfe vollständig zu beseitigen, diese wurden aber nicht realisiert.
Die Zerstörungen, die die Grenzanlagen und der nach dem Fall der Mauer einsetzende Vandalismus auf den Friedhöfen angerichtet haben, sind heute noch an vielen Stellen sichtbar. Vor allem der frühere Verlauf des Grenzstreifens ist gut zu erkennen, da nach der Wiedervereinigung zwar die Friedhofsmauern an der Liesenstraße und die Hauptwege der Friedhöfe wiederhergestellt, weitergehende rekonstruierende Maßnahmen jedoch unterlassen wurden. Auf dem ehemaligen Todesstreifen wächst inzwischen Gras; unterbrochen wird die Wiese nur von einem Bestattungsunternehmen, das sich hier in einem schmucklosen Zweckbau niedergelassen hat.
Spannende Zeitreise durch die Berliner Geschichte
Auf dem katholischen Domfriedhof sind darüber hinaus Reste der Grenzanlagen erhalten geblieben, von denen einige heute unter Denkmalschutz stehen. So befindet sich an der nördlichen Spitze des Friedhofs ein etwa 15 Meter langer Abschnitt der "Grenzmauer 75". Es handelt sich dabei um den kürzesten der drei noch erhaltenen Abschnitte der eigentlichen Berliner Grenzmauer. Im westlichen Teil des Friedhofs steht außerdem ein kurzer Abschnitt der Hinterlandmauer des Grenzstreifens und im Osten begrenzt eine ebenfalls denkmalgeschützte Plattenwand den Friedhof. Sie ist etwa 200 Meter lang und besteht aus zwischen Stahlträgern aufgehängten Betonplatten.
Die Friedhöfe und die erhaltenen Grenzanlagen verleihen der Liesenstraße einen wohl einmaligen Charakter und ermöglichen auf nur rund 500 Metern eine spannende Zeitreise durch die Berliner Geschichte. Von der Gründerzeit über die deutsch-deutsche Teilung bis zum Fall der Mauer – in dieser Straße wird die Vergangenheit beeindruckend lebendig.
Dieser Text wurde erstmals am 3.Oktober 2019 veröffentlicht und jetzt aktualisiert.