"Von den Kanzeln war keine Kritik am Krieg zu vernehmen"

Vor 80 Jahren, am 1. September 1939, begann mit dem deutschen Angriff auf Polen der Zweite Weltkrieg. Wie hat die katholische Kirche sich damals verhalten? Was machten Priester an der Front? Fragen der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) an die beiden Historiker Frank Kleinehagenbrock und Christoph Kösters. Kleinehagenbrock ist Geschäftsführer, Kösters wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn. Seit ihrer Gründung 1962 erforscht die Kommission die politische und soziale Geschichte des deutschen Katholizismus im 20. und 21. Jahrhundert.
Frage: Herr Kleinehagenbrock, Herr Kösters, wie sah die konfessionelle Landkarte Deutschlands zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs aus?
Kleinehagenbrock: Etwa 95 Prozent der Menschen im sogenannten Großdeutschen Reich, also unter Einschluss Österreichs, waren christlich getauft. Davon waren 40 Prozent katholisch.
Frage: Und die restlichen fünf Prozent?
Kleinehagenbrock: Bezeichneten sich größtenteils als "gottgläubig", waren aus der Kirche ausgetreten und hatten stattdessen ein Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie abgelegt. 1936 war diese Bezeichnung zusätzlich zu den übrigen religiösen Bekenntnissen eingeführt worden.
Frage: Wie würden Sie die Stimmung unter den deutschen Katholiken beschreiben, als Hitler am 1. September 1939 vor dem Reichstag den Angriff auf Polen verkündete?
Kleinehagenbrock: Als gedämpft. Auf keinen Fall war sie so euphorisch wie 1914 beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Frage: Gab es auch so etwas wie Solidarität mit den Christen im traditionell katholischen Polen?
Kleinehagenbrock: Ich habe eher den Eindruck, dass die Solidarität mit dem eigenen Volk überwog.
Kösters: Ich denke, dass insbesondere im Fall von Polen seit dem 19. Jahrhundert gewachsene negative Klischees eine Rolle gespielt haben - weniger auf "offizieller" Propaganda-Ebene, als vielmehr durch über Jahrzehnte gewachsene Vorurteile.

"Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen": Am 1. September 1939 verkündete Reichskanzler Adolf Hitler vor dem Reichstag den Beginn des Krieges.
Frage: Woher stammten diese Vorurteile?
Kösters: Durch die Zuwanderung von Polen etwa ins Ruhrgebiet, die bereits im Kaiserreich einsetzte. Da kam es natürlich auch zu Konflikten und stereotypen Wahrnehmungen, die sich in den Köpfen der Menschen festsetzten und die vom NS-Regime aufgegriffen wurden.
Frage: Was bekamen Gottesdienstbesucher im September 1939 bei den Sonntagspredigten zu hören?
Kleinehagenbrock: Von den Kanzeln war keine Kritik am Krieg zu vernehmen, stattdessen Aufrufe zu christlichem Gehorsam und soldatischer Pflichterfüllung. Das entsprach katholischem Selbstverständnis. Dazu zählte auch die Bitte um baldige Wiederherstellung des Friedens.
Frage: Wie verträgt sich das mit der Tatsache, dass es bis 1939 bereits heftige Konflikte zwischen den Kirchen und dem NS-Regime gegeben hatte?
Kleinehagenbrock: Bei Kriegsausausbruch hatte Hitler ganz bewusst angeordnet, die gegen die Kirchen gerichteten Maßnahmen einzuschränken, um den Frieden in der Bevölkerung zu erhalten und die Menschen ganz und gar auf den Krieg einzustimmen.
Frage: Sind Ihnen Stimmen von kriegsbegeisterten katholischen Geistlichen aus jener Zeit bekannt?
Kösters: Für 1939 würde ich das verneinen. In den Hirtenbriefen der allermeisten katholischen Bischöfe war in diesen Wochen auch nicht mehr wie 1914 ausdrücklich von einem "gerechten Krieg" die Rede.
Kleinehagenbrock: Als eine Ausnahme ist allerdings Feldbischof Franz Justus Rarkowski zu nennen, der von "völkischer Notwehr" sprach und später dann beim Angriff auf die Sowjetunion die Soldaten aufrief, dem "bolschewistischen Untermenschentum" den Garaus zu machen.
Frage: Welche Aufgabe hatte der Feldbischof?
Kleinehagenbrock: Das zwischen dem Heiligen Stuhl und Deutschland 1933 abgeschlossene Reichskonkordat regelte auch die katholische Militärseelsorge. An ihrer Spitze stand der aus Ostpreußen stammende Rarkowski, der allerdings unter seinen Amtsbrüdern aufgrund seiner großen Nähe zur NS-Ideologie isoliert war. Von dieser im Rahmen der Wehrmacht organisierten Militärseelsorge getrennt zu betrachten sind diejenigen Priester und Theologiestudenten, die während des Krieges eingezogen wurden. Auch darüber waren 1933 in einem geheimen Anhang zum Reichskonkordat Vereinbarungen getroffen worden.

Die Rolle von Papst Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs ist bis heute umstritten.
Frage: In welchen Bereichen wurden diese Priester und Theologen eingesetzt?
Kleinehagenbrock: Ursprünglich war für diese sogenannten Priestersoldaten der Sanitätsdienst vorgesehen. Das hat sich aber bald geändert, sodass viele der circa 20.000 Geistlichen, Ordensmänner und Theologiestudenten in Wehrmachtsuniform in den verschiedenen Waffengattungen finden sind.
Frage: War so etwas wie Kriegsdienstverweigerung aus religiösen Gründen denkbar?
Kleinehagenbrock: Von so etwas wissen wir nur in seltenen Fällen, etwa bei Max Josef Metzger. Männer wie Metzger hatten sich meist schon nach dem Ersten Weltkrieg in der Friedensbewegung engagiert. Für die allermeisten Katholiken war so etwas aber schlicht nicht vorstellbar.
Frage: Wie positionierte sich Papst Pius XII. zu Kriegsbeginn?
Kösters: Schon im Ersten Weltkrieg musste sein um Frieden bemühter Vorgänger Benedikt XV. zwischen den unterschiedlichen Kriegsparteien hin- und herlavieren - vor allem auch mit Bedacht auf seine eigene Position. Daran hatte sich 1939 nichts geändert.
Frage: Was heißt das?
Kösters: Der Kirchenstaat war erst zehn Jahre zuvor dem italienischen Staat abgerungen und vertraglich abgesichert worden. Das bedingte gewisse Rücksichtnahmen der vatikanischen Diplomatie, etwa auf die Interessen des faschistischen Regimes in Italien, dem Bündnispartner Deutschlands. Der Papst bemühte sich um Neutralität, sandte aber auch Friedensappelle...
Frage: ..., die nach Meinung seiner Kritiker sehr verhalten ausfielen.
Kösters: Das ist ja auch Gegenstand von Kontroversen seit den 1960er Jahren.
Kleinehagenbrock: Als Kulminationspunkt der kirchenpolitischen Auseinandersetzung in Deutschland gilt die Enzyklika "Mit brennender Sorge", die der Papst schon im März 1937, also zweieinhalb Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte. Darin verurteilt Pius XI. unmissverständlich den Rassegedanken und die Unterdrückung der katholischen Kirche durch das NS-Regime in Deutschland - sehr zum Ärger und Missfallen der Nationalsozialisten.
Frage: Immer noch Diskussionsstoff liefert die Frage, inwiefern Papst Pius XII. mehr zum Schutz der verfolgten Juden und gegen den grassierenden Antisemitismus hätte tun können.
Kleinehagenbrock: Wir haben ab dem kommenden Jahr die Möglichkeit, die vatikanischen Akten zum Pontifikat von Papst Pius XII. einzusehen. In Rom rechnet man mit einem sehr lebhaften Interesse an den entsprechenden Beständen. Dann wird sich zeigen, ob zusätzlich zu den Erkenntnissen, die wir bislang schon aus einer Fülle von Dokumenten gewonnen haben, neue hinzukommen.