Overbeck: Brauchen lokale Lösungen in einer Weltkirche
Seit 2009 ist Franz-Josef Overbeck Bischof von Essen, zudem sitzt er innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz in der Kommission Weltkirche der Unterkommission für Lateinamerika vor. Dadurch ist er für das Lateinamerika-Hilfswerk "Adveniat" zuständig. Im Rahmen dieser Aufgabe beschäftigt ihn ganz besonders die Amazonas-Synode, die im Oktober im Vatikan zusammenkommt. Außerdem ist er innerhalb des "synodalen Weges" in Deutschland Teil des Forums, das sich mit Fragen von Macht, Partizipation und Gewaltenteilung auseinandersetzt. Ein Interview.
Frage: Bischof Overbeck, Sie haben gesagt, dass nach der Amazonas-Synode im Oktober in der Kirche "nichts mehr sein wird wie zuvor". Was macht Sie da so sicher?
Overbeck: Zu den derzeitigen Herausforderungen gehört es, eine globale Kirche mit sehr großen lokalen Unterschieden zu gestalten. Es muss sich also ein neues Konzept von Einheit in der katholischen Kirche entwickeln. Ich begreife diese Synode deshalb als Anfang: Nach den verschiedenen Kontinentalsynoden, die schon Johannes Paul II. einberufen hat, wird jetzt eine in sich zwar nicht geschlossene, aber unterscheidbare Region zum Thema einer Synode unter Papst Franziskus. Mit der Fokussierung auf den Amazonas kommen besondere Themen auf den Tisch: Schöpfung, Natur und Klima sowie klassische kirchliche Fragen nach Gemeinde, Priester und Seelsorge. Diese Themenbereiche scheinen nur auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben, sind aber doch eng vernetzt.
Frage: Was soll denn jetzt gerade am Amazonas die Welt verändern?
Overbeck: Veränderungen geschehen Schritt für Schritt. Die Kirche versteht sich als pilgerndes Volk Gottes unterwegs – also als nicht "sesshaft" oder statisch, sondern als dynamisch, lebendig und daher auch wandlungsfähig. So ist es auch hier: Wie die alte Kirche synodale Strukturen kannte, die sich dann aufgrund historischer Bedingungen verändert haben, so leben wir jetzt wieder in einer Phase, in der sich deutlich sichtbar Neues zeigt. Das Pontifikat von Papst Franziskus hat meines Erachtens nicht umsonst einen synodalen Schwerpunkt. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass sich bei dieser Synode auf eine neue Weise die Verbindung zwischen globaler Weltkirche und lokaler Kirche zeigt, die wir auf vielen Ebenen noch intensivieren müssen.
Frage: Inwiefern wird sich dieses Verhältnis denn entwickeln?
Overbeck: In der Praxis sind die unterschiedlichen Teile der Weltkirche bereits sehr ausdifferenziert. Selbst wenn jetzt eine Europa-Synode auf den Weg gebracht würde, würde sie unter den heutigen Bedingungen des digitalen Lebens und der Globalisierung nicht einhellige Ergebnisse für Nord- und Süd-, West- und Osteuropa zeigen. Da wären heute schon hohe Differenzierungen notwendig. Das zu erkennen, ist die Chance, die die Amazonas-Synode bietet.
„Die Kirche versteht sich als pilgerndes Volk Gottes unterwegs – also als nicht 'sesshaft' oder statisch, sondern als dynamisch, lebendig und daher auch wandlungsfähig.“
Frage: Die Kirche braucht also mehr regionale Lösungen?
Overbeck: Der Papst selbst ist derjenige, der sagt, dass wir nach lokalen Lösungen Ausschau halten müssen. So funktioniert Kirchenentwicklung. Wir müssen ein solches Konzept von Weltkirche mit Leben füllen. Das beginnt an einer Stelle und dann werden wir sehen, was sich daraus ergibt. Das ist nichts Besonderes, sondern schlicht eine organische Entwicklung, die dabei die Weltkirche immer im Blick behält.
Frage: Sowohl bei der Amazonas-Synode wie auch beim "synodalen Weg" in Deutschland wird es um die Frage gehen, wie in einem Umfeld mit wenigen Priestern die regelmäßige Feier der Heiligen Messe gewährleistet werden kann. Dazu soll auch über "viri probati" diskutiert werden. Halten Sie deren Einführung auch für Deutschland für ein anstrebenswertes Ziel?
Overbeck: In der Tradition hat sich aus vielen Gründen der zölibatär lebende Priester entwickelt. Wir haben aber schon in der römischen Tradition mit den unierten katholischen Ostkirchen einen i.d.R. verheirateten Klerus. Bei Pfarrern aus der anglikanischen und protestantischen Kirche, die in die katholische Kirche aufgenommen und zum Priester geweiht werden, ist es genauso. In solchen Fällen bleibt dann ja das Eheband bestehen. Diese Beispiele sind nur kleine Zeichen, dass es durchaus auch die Form eines verheirateten Priesters in unserer Tradition gibt – wenn auch nicht systemisch. Zudem wird in unserer Kultur immer bedeutsamer, dass für viele Gläubige das authentische geistliche Leben der Priester wichtiger ist als deren Lebensform. Auch so öffnen sich sehr differenziert neue Wege. Ich bin nicht dafür, den Zölibat grundsätzlich aufzugeben – das ist falsch. Ich bin dafür, auf dem Weg der Dispens einen weiteren Zugang zu finden.
Frage: Sind Sie dafür, dass sich Priester aussuchen dürfen, ob sie den Zölibat leben?
Overbeck: Einerseits wissen wir, dass der Priester, wenn er zum Zölibat berufen ist, diesen gut leben kann. Andererseits wissen wir auch, dass sich das Amt auch in der Ehe leben lässt. Die Frage ist, wie die Gesamtkirche und die Kirche vor Ort die Bedeutung des Zölibats für alle einschätzt. Wenn ich allerdings die Entwicklung der letzten Jahre sehe, wird es bei uns bald schlicht und ergreifend – und zwar auf Dauer – zu wenig Priester geben. Andere Hilfen bleiben oft Notlösungen ohne Dauerhaftigkeit.
Frage: Also brauchen wir eine deutsche Sonderregel?
Overbeck: Nein. Wenn, dann müssen mindestens die gesamten europäischen Zusammenhänge im Blick sein. Ich glaube aber, dass jetzt erstmal der Amazonas dran ist. Die Bedingungen der europäischen Kirche sind verglichen mit den Zuständen in Lateinamerika derartig komfortabel, dass wir zurückhaltend sein müssen. Wir können die beiden Gegenden wegen ihrer Unterschiedlichkeit nicht vergleichen.
Frage: Beim "synodalen Weg" sind Sie Teilnehmer des Forums "Macht, Partizipation und Gewaltenteilung". Schon seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil soll der Priester ja in erster Linie ein Dienender sein. Das scheint in vielen Köpfen aber nicht angekommen zu sein. Was muss sich ändern?
Overbeck: Wichtig ist, als Priester ein leitendes Amt so auszuüben, dass es die Menschen geistlich fördert und zusammenhält. In der reichen Tradition der Kirche in Deutschland geht es aber oft auch um die Verwaltung von Geld, Immobilien und um Gremien. Das gibt es in dieser Form in vielen Weltregionen nicht. Aufgrund unseres gewachsenen Priesterbildes können wir heute aber auch nicht einfach dem Priester alle diese Aufgaben abnehmen, um dann am Ende einen scheinbar reinen Seelsorger zu haben. Das konkrete Leben im Alltag ist immer vielfältiger. Hier gilt es noch vieles zu bedenken und zu entwickeln. Wir befinden uns da gerade in einer Art Übergangsphase, in einem Wandel, hinein in eine neue Zeit.
Frage: Wo sehen Sie den Wandel?
Overbeck: Es gibt mittlerweile in unserem Bistum einige Priester, die expressis verbis keine Pfarrer mehr sein wollen – und es auch nicht mehr sind. Ihnen fehlt der Bezug zu Verwaltungsaufgaben oder zu Fragen des Umgangs mit Gremien etc. Solche Priester haben wir bereits mit der Wahrnehmung der geistlichen Begleitung und der tatkräftigen Unterstützung von Gemeinden oder Verbänden beauftragt, in denen i.d.R. Laien viele der Leitungsaufgaben wahrnehmen.
Frage: Es geht also darum wahrzunehmen, was jemand mag und kann, anstatt ihn in ein System hineinzupressen?
Overbeck: Erst einmal gilt, dass jeder seine normalen Aufgaben zu erfüllen hat. Man kann aber im Laufe der Zeit – wie in jedem Beruf – lernen, zwischen Pflicht und Kür zu unterscheiden. Es kann dann sein, dass Menschen in einem bestimmten Stadium ihres Berufes sagen: Ich kann das eine, aber das andere nicht mehr. Das mindert aber nicht die grundständigen Aufgaben z. B. eines Pfarrers.
„Wir müssen anfangen, in einer neuen Kultur aus jungen und jung gebliebenen Menschen und Suchenden auf dem Weg des Glaubens und der Kirche zu sein.“
Frage: Was sollte am Ende des "synodalen Weges" stehen?
Overbeck: Dass wir eine tragende geistliche Erfahrung von Gemeinschaft als lebendig glaubende Kirche in Deutschland machen. Wir müssen sowohl die Phänomene der momentanen Krise wahrnehmen, als auch den nächsten Schritt tun, um in eine neue Zeit zu gehen. Diese neue Zeit hat sich schon angekündigt, befördert u.a. durch den Missbrauchsskandal. Es geht aber nicht nur um die professionelle Bearbeitung dieses Skandals, sondern um die Frage: Was hilft zu einer Vertiefung des Glaubens? Wir müssen anfangen, in einer neuen Kultur aus jungen und jung gebliebenen Menschen und Suchenden auf dem Weg des Glaubens und der Kirche zu sein.
Frage: Kann diese Gemeinschaftserfahrung dazu führen, dass die Kirche auch in einem säkularer werdenden Umfeld Interesse wecken kann?
Overbeck: Momentan befinden wir uns mit Blick auf die Aufnahmefähigkeit und -willigkeit für das Evangelium in einem Land mit "hartem Boden". Das ist ein Auftrag an uns. Wir sollten aufhören, herum zu lamentieren oder Menschen zu bewerten. Wir müssen nüchtern wahrnehmen, wie die Menschen im Alltag sind und ihnen auf dieser Grundlage den Glauben anbieten.
Frage: Was heißt dieses "den Glauben anbieten" denn ganz konkret?
Overbeck: Wir haben hier im Bistum mit unserem Zukunftsbild einen anthropologischen Ansatz gewählt, weil ich glaube, dass wir an dieser Stelle die meisten Türen öffnen können für Begegnungen mit der Kirche, mit Gott und dem Evangelium. Es wird dann ganz viele geben, die mit Sympathie bei uns sind, aber nicht das ganze Programm mitmachen. Diese sind dann vielleicht an zwei, drei Stellen dabei. So ergibt sich eine soziologisch und sozial vollkommen neue Gruppe von Menschen, die in unterschiedlicher Nähe und Distanz zum Glauben und zum Evangelium stehen.
Frage: Vor allem konservative Kritiker bemängeln, dass mit niederschwelligen Angeboten zu viel Substanz des Glaubens aufgegeben wird. Können Sie das nachvollziehen?
Overbeck: Nein, weil wir keine Substanz aufgeben. Als Christen glauben wir nicht, dass unsere Art zu glauben, der einzige Weg ist. Es gibt viele Wege zu Gott. Wenn andere einen reifen Glauben leben und andere Wege gehen, ist das in einer pluralen Welt völlig normal. Wir müssen mit vielen Menschen Wege des Glaubens finden und dürfen da keine Schulnoten verteilen und den einen für besser oder schlechter halten. Da findet jeder seinen eigenen Zugang nach Gottes Willen.