Für eine neue theologische Sicht auf Tiere
Sie begegnen uns im Garten, hin und wieder auf dem Weg zur Arbeit und manchmal unerwartet im Büro. Manche Leute bekommen ungewollt Besuch von ihnen, andere laden sie ein. Manchmal fliegen sie auf unser Essen, ein anderes Mal liegen sie als Essen auf dem Teller. Tiere sind immer da – und sogar länger auf der Erde, als es Menschen gibt. Leben entstand auf dem blauen Planeten vor etwa 3,8 Milliarden Jahren, Wirbeltiere gibt es seit 500 Millionen. Der Mensch bevölkert die Erde erst seit etwa 300.000 Jahren.
Trotzdem spielen Tiere bei der religiösen Sicht auf die Welt kaum eine Rolle. Sicher: Die Bibelexegese nimmt sich ihrer als Symbolträger an, die Ethik untersucht, wie wir mit ihnen umgehen sollen und in der kirchlichen Praxis ist der Schritt hin zu Tiersegnungen und -beerdigungen schon getan. Doch wenn es um das fundamentale christliche Bild von Welt und Schöpfung geht, sind die Tiere außen vor.
Das hat historische Gründe: Als das Christentum entstand, war es mit dem Heidentum von einer Religion umgeben, in der Götter in Tiergestalt an der Tagesordnung waren. Davon wollten sich die frühen Christinnen und Christen unbedingt absetzen und fokussierten ihre Glaubenslehre deshalb auf den Menschen – was zu dessen Überhöhung führte. Bis hin zur Betitelung als "Krone der Schöpfung" ging es nur noch um den Menschen als Herrscher der Welt, der sich Pflanzen und Tiere nach Belieben zu Nutze machen durfte und sollte. Alles andere trat in den Hintergrund.
Dabei steht in der Bibel etwas anderes. Denn bereits am vierten Tag der Schöpfungsgeschichte widmet sich Gott erstmals den Tieren: "Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehrt euch! Füllt das Wasser im Meer und die Vögel sollen sich auf Erden vermehren" (Gen 1,22). Gleiches ruft er auch den Tieren auf dem Land einen Tag später zu. Erst am sechsten Tag macht er sich an den Menschen. Den beiden ersten sagt er: "Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!" (Gen 1,28) Der Mensch ist also durchaus privilegiert – allerdings erhält er ansonsten den gleichen Auftrag wie die Tiere. Außerdem ist er keinesfalls die Krone der Schöpfung – das ist der Sabbat am siebten Schöpfungstag.
Ein Auftrag mit Folgen
Wir müssen unsere theologische Sicht auf die Tiere vollkommen ändern, sagt die Dresdener Systematische Theologin Julia Enxing. Der Mensch sei zwar unbestreitbar das komplexeste Wesen der Evolution mit den größten Handlungsmöglichkeiten und der höchsten Selbstreflexion. "Damit geht allerdings nicht das Privileg einher, alles andere auf sich auszurichten. Vielmehr bedeutet das eine besondere Verantwortung", sagt die Theologin. Sie fordert einen Paradigmenwechsel: Es dürfe nicht mehr die ganze Welt auf den Menschen hin gedacht werden, sondern eher als großes Netz, in dem ganz besonders der Mensch auf andere Arten angewiesen ist. "Wir sind da, weil andere vor uns da waren und Leben um uns herum besteht."
Das Denken so umzustellen, hätte weitreichende Folgen – zum einen in der Bewertung von anderen Lebewesen. Bisher, so Enxing, würden Tiere und deren Rechte vor allem danach beurteilt, wie ähnlich sie dem Menschen sind. Faustformel: Je menschlicher, desto wertvoller. Das ginge dann nicht mehr. "Es geht dann mehr um Gemeinsamkeiten: Den gemeinsamen Entstehungsprozess und die gegenseitige Angewiesenheit." Dadurch würden einige Argumentationsmuster hinterfragt. Denn auch Papst Franziskus sieht in seiner Enzyklika "Laudato si" den Klimaschutz vor allem als Dienst am Weiterbestand des Menschen. Nach einem Paradigmenwechsel ginge es aber eher um den gemeinsamen Ruf Gottes "mehret euch", der an Menschen wie Tiere gleichermaßen ergeht. Dafür wäre dann beispielsweise der Klimaschutz nicht eine Aufgabe des Menschen für den Menschen, sondern eine Verantwortung für das ganze Ökosystem.
Auch das Prinzip Nächstenliebe gelte dann ebenfalls für Tiere. Was Auswirkungen auf das bisherige Verhältnis des Menschen zu ihnen hätte. Denn bisher sieht der Mensch seine irdischen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner vor allem als Nutzmaterial für Häute, Felle, medizinische Versuchsobjekte – und Nahrung. Denkt man den Paradigmenwechsel zu Ende und berücksichtige, dass nach Paulus Gott in allem Leben ist, wäre unser Verhalten nicht mehr tragbar. "Wir haben kein Recht, Tiere zu essen und wir haben kein Recht, sie für Laborzwecke zu benutzen", sagt Enxing. Damit unterscheidet sie sich beispielsweise vom Freiburger Moraltheologen Eberhard Schockenhoff, der den Genuss von Fleisch damit rechtfertigt, dass er Teil einer genussreichen Ernährung sei. Doch Enxing differenziert: Eine hungernde Familie, die nichts habe außer einer Ziege, dürfe diese Ziege auch essen. Wenn es um ein lebenswichtiges Medikament geht, darf dieses vorher an Tieren getestet werden. Fleischkonsum bei uns sei aber in Anbetracht vieler vegetarischer und veganer Alternativen nicht zu rechtfertigen. Gleiches gelte für Tierversuche für lediglich kosmetische Produkte, findet die Systematikerin. Der Genuss ist für sie kein Argument.
Mehr Bildung für kenntnisreiche Diskussion
Ein neues Denken müsste allerdings auch Auswirkungen auf die Bildung haben. Mit Bezug auf die kanadische Theologin Heather Eaton fordert Enxing eine "ökologische Alphabetisierung". Ausgangspunkt jeder Bildung müsse das biologische Verständnis darüber sein, wie Leben zustande komme und wie es funktioniere. Denn nur auf dieser Grundlage könne dann diskutiert werden – auch im theologischen Rahmen. "Das würde unsere Sprachfähigkeit bei religiösen Inhalten verbessern." Zu oft hätten Theologinnen und Theologen schlicht zu wenig Kompetenz in biologischen Fragestellungen. "Das ist dann keine informierte und aufgeklärte Theologie." Die Kenntnis naturwissenschaftlicher Vorgänge sei aber wichtig, um sie dann theologisch zu deuten.
Julia Enxing ist bewusst, dass der von ihr geforderte Paradigmenwechsel nicht von heute auf morgen umzusetzen sein wird. Ihr ist es deshalb wichtig, erst einmal auf abstrakter Ebene am Selbstverständnis des Menschen zu rütteln und so ein Umdenken anzustoßen. Denn in den industrialisierten Ländern wie Deutschland fehle den Menschen der selbstverständliche Kontakt zu Tieren im Alltag, findet sie. Dabei sei das Verständnis von Mensch und Tier als Wesen auf Augenhöhe ganz intuitiv im Menschen verankert. So würde ein Kleinkind die Nahrungsaufnahme bei seinen Eltern wie bei einem Hund immer als "essen" bezeichnen. Es wird ihm erst anerzogen, dass ein Tier "frisst". "Die Nähe zu den Tieren hat eine viel längere Geschichte als die Distanz", hält Enxing fest. Darauf gelte es sich zurückzubesinnen.