"Kirchen sollten sich bewegen"
Frage: Herr Professor Joussen, die Gewerkschaft Verdi will vor dem Bundesverfassungsgericht das Streikrecht in kirchlichen Betrieben durchsetzen. Wie groß sind die Erfolgsaussichten?
Joussen: Mich hat die Verfassungsbeschwerde überrascht, weil ich die Erfolgsaussichten für nahezu null erachte. Bislang hat das Verfassungsgericht solche Beschwerden so gut wie nie angenommen, noch nicht einmal als zulässig erachtet, wenn der Gewinner eines Urteils die Verfassungsbeschwerde erhebt. Das ist hier der Fall.
Frage: Was hat das Bundesarbeitsgericht im November vergangenen Jahres genau entschieden?
Joussen: Dem Urteil zufolge müssen kirchliche Arbeitgeber verschiedene Bedingungen in Bezug auf ihr Arbeitsrecht erfüllen. Die Unternehmen müssen sich an die Ergebnisse – zum Beispiel zu Gehaltsfragen – der aus Dienstgebern und Dienstnehmern besetzten Kommissionen halten. Sollten Verhandlungen scheitern, muss der Vorsitzende einer Schiedskommission unabhängig sein. Und: Die Gewerkschaften müssen in den Kommissionen vertreten sein. Falls die Kirchen diese Bedingungen nicht erfüllen, haben die Gewerkschaften das Recht zu streiken.
Frage: Stellt ein Streikrecht in kirchlichen Betrieben wirklich eine Bedrohung des kirchlichen Arbeitsrechts, des sogenannten dritten Weges, dar?
Joussen: Im Moment erfüllen die kirchlichen dritten Wege im Arbeitsrecht in den Diözesen und Landeskirchen nicht die Bedingungen, die das Bundesarbeitsgericht aufgestellt hat. Ein Arbeitskampf ist also denkbar, bis die Kirchen ihre Systeme angepasst haben. Sollten sie das nicht tun, haben es Verdi oder der Marburger Bund in der Hand, den dritten Weg so zu bekämpfen, dass die kirchlichen Arbeitgeber dauerhaft auf Tarifverträge umsteigen müssten.
Frage: Auch andere Urteile haben sich in den letzten Jahren mit dem kirchlichen Arbeitsrecht befasst. Steht der verfassungsrechtliche Sonderweg der Kirchen vor dem Aus?
Joussen: Man kann rechtlich und praktisch argumentieren. Da der Sonderweg verfassungsrechtlichen Schutz genießt, sehe ich ihn rechtlich im Moment nicht am Ende. Praktisch hat es in den vergangenen zwei, drei Jahren vermehrt Urteile dazu gegeben. Das spiegelt die sich wandelnde Rolle der Kirchen in der Gesamtgesellschaft wieder. Es wäre überraschend, wenn die veränderte Wahrnehmung und Stellung der Kirchen sich im Arbeitsrecht nicht niederschlagen würde.
Frage: Wären die Kirchen aufgrund des Wandels in Arbeitswelt und Gesellschaft ihrer Meinung nach gut beraten, über Änderungen bei ihrem Arbeitsrecht nachzudenken?
Joussen: Ja. Im katholischen Bereich, in dem anders als im evangelischen immer noch Moralvorstellungen zu Loyalitätskonflikten führen, wäre es aus arbeitsrechtlicher Sicht – nicht aus theologischer Sicht – günstig, sich zu bewegen. Ein weltlicher Richter unserer Zeit versteht beispielsweise die Möglichkeit einer Kündigung eines wiederverheiratet-geschiedenen Arbeitnehmers nicht mehr.
Frage: Nicht selten wird der Vorwurf gehört, das kirchliche Arbeitsrecht sei ein Arbeitsrecht zweiter Klasse. Kann man das so pauschal sagen?
Joussen: Nein. Es beachtet es die Besonderheiten der Kirche, die auch von der Verfassung anerkannt sind. Ich käme auch nicht auf die Idee, zum Beispiel den Umstand, dass es im öffentlichen Bereich Personal- statt Betriebsräte gibt, als zweitklassig zu bezeichnen. Nur, weil ein Recht bestimmte Umstände berücksichtigt, ist es kein Recht zweiter Klasse.
Das Interview führte Christoph Meurer