Vor 70 Jahren gab Pius XII. dem Radsport eine Schutzpatronin

Die Madonna di Ghisallo - Fürsprecherin der Fahrradfahrer

Veröffentlicht am 12.10.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Magreglio/Rom ‐ Gelbe Trikots, Pokale und ganze Zweiräder: Die Votivgaben in der kleinen Kapelle über dem Comer See wirken zunächst fehl am Platze. Doch dann hört man von einem umtriebigen Pfarrer, der die Gottesmutter mindestens genauso verehrte wie den Radsport.

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Nicht nur der Fußball in Italien hat seine eingefleischten Fans, die "Tifosi", auch der Radsport. Einer der zahllosen Anhänger von Heroen wie Binda, Bartali und Coppi war Don Ermelindo Vigano, den sein Mailänder Erzbischof 1944 als Pfarrer nach Magreglio am Comer See versetzte. Zu dem Ort gehört auch eine Kapelle auf dem Colle di Ghisallo, einem Hügel in dem Dreieck zwischen den beiden Armen des Sees. Hier verehrten die Menschen der Region über Jahrhunderte das Bild einer stillenden Muttergottes. Weil irgendwann im 11. Jahrhundert ein Graf von Ghisallo in Todesgefahr die Muttergottes um Hilfe gebeten hatte und erhört wurde, erhielt diese Madonna den Beinamen "di Ghisallo".

Seither blieb die Zahl derer, die zu ihr pilgerten, übersichtlich - bis sich im Herbst des Jahres 1905 eine keuchende Karawane von Bellaggio am Seeufer kommend den Weg zur Kapelle hinaufquälte: die Teilnehmer der von dem italienischen Radrennfahrer Giovanni Gerbi ersonnenen ersten Lombardei-Rundfahrt. Auch in den Folgejahren führte das Rennen stets zum Ghisallo-Hügel hinauf. Wer oben an der Madonna unter den ersten war, hatte beste Chancen, im Ziel in Mailand auf dem Podium zu stehen.

Don Vigano, der seit 1945 jedes Mal mit Hunderten anderer Tifosi am Straßenrand stand, sah darin einen Wink des Himmels. Und so baute der umtriebige Seelsorger den Ghisallo zu einem Wallfahrtsort für Radsportler aus. Dazu etwa überzeugte er die frommen unter ihnen, ihr Trikot als Votivgabe der Madonna zu überlassen. Manche spendeten ein Rad, andere Pokale - sicherlich auch als Eigen-PR.

Am 12. Oktober passiert die Lombardei-Rundfahrt, die als "Rennen der fallenden Blätter" die offizielle Radsport-Saison beschließt, erneut die Madonna di Ghisallo. Einen Tag später wird die Schutzpatronin der Radsportler 70 Jahre alt. Es war der 13. Oktober 1949, als Papst Pius XII. sie zur "Patronin der italienischen Radfahrer" erklärte.

Bild: ©KNA

Das entsprechende Breve, eine kurze Urkunde, hängt heute an der rechten Innenwand der Kapelle. Mit schnörkelig geschriebenen wie formulierten lateinischen Sätzen, die länger scheinen als der gut zehn Kilometer lange Anstieg hinauf nach Ghisallo, heißt es dort: "... nach einigen Erkundigungen und Unserer reiflichen Überlegung sowie mit der Fülle Unserer Autorität und kraft dieses Schreibens erwählen und dekretieren Wir auf ewig die Seligste Jungfrau Maria unter dem Titel 'von Ghisallo' zur wichtigsten Himmlischen Fürsprecherin der Italienischen Radfahrer bei Gott."

Wie es dazu kam, erwähnt die Urkunde auch: "In der Tat, die Union der Velozipeden Italiens, auf Initiative des geschätzten Sohnes Ermelindo Vigano, Pfarrer von Magreglio, präsentierte Uns drängende und demütige Bitten, damit die Gottgleiche Jungfrau, von Ghisallo genannt, (...) von Uns zur wichtigsten himmlischen Patronin erklärt würde." In der Tat muss Don Vigano den Heiligen Vater in Rom intensiv bearbeitet haben - auch mittels seines Erzbischofs, Kardinal Alfredo Ildefonso Schuster, sowie des Italienischen Radsportverbandes.

Bereits ein Jahr zuvor, im Herbst 1948, geleitete eine Staffel prominenter Radrennfahrer - unter ihnen Fausto Coppi und Gino Bartali - eine überdimensionale Fackel von Castel Gandolfo nach Ghisallo. Heute steht die etwa 1,5 Meter hohe Plastik in der Mitte der Kapelle. Auf ihr sind in drei Szenen Pius XII. und diverse Radsport-Granden Italiens zu sehen. Die vierte Seite zeigt eine Darstellung der stillenden Madonna. Die Tag und Nacht in leicht kitschigem Rosa (elektrisch) brennende Flamme stehe für die Frömmigkeit der Radfahrer, heißt es, und erinnere an die Gefallenen. Mit denen sind keine Kriegsopfer gemeint.

Wandtafeln präsentieren Bilder jener, die "auf der Straßen fielen, weil sie einen Traum von Ruhm verfolgten, den sie sich im Lichte des Opfers ihres jungen Lebens erfüllten". Unter den zahlreichen Votivgaben ist auch das Rad von Fabio Casartelli. Das hoffnungsvolle Radsporttalent, geboren in Como, war 1995 bei der Tour de France auf einer Abfahrt in den Pyrenäen gestürzt, mit dem ungeschützten Kopf auf einen Betonpfeiler geknallt. Es brauchte indes noch acht Jahre und einen weiteren tödlichen Unfall, bevor der Radsport-Weltverband (UCI) für Profis die Helmpflicht einführte. Der Schutz der Madonna allein genügt nicht.

Drei Radfahrer mit Helm fahren eine grüne Wiese herunter. Im Hintergrund sind hohe Berge zu sehen.
Bild: ©Fotolia.com/VRD

Radfahrer in den Alpen.

Wahre Ghisallo-Pilger nehmen den 10,6 Kilometer langen Anstieg auf zwei Rädern in Angriff, um die 556 Meter höher gelegene Madonna zu erreichen. Zwei bis zu 14 und 12 Prozent steile Rampen werden unterbrochen durch eine relativ ebene Passage, die kurz verschnaufen lässt. Wer sich mit brennenden Oberschenkeln, gelegentlich aus dem Sattel gehend, die Straße hinaufschraubt, meint auf ihr die Schweißtropfen seiner Vorgänger wahrzunehmen. Das großartige Alpenpanorama über dem See im Rücken gerät noch kaum in den Blick.

Erst oben angekommen, wenn der Puls sich beruhigt, beginnen die Augen zu schwärmen. Manche sagen, das Dreieck am Comer See sei der schönste Teil der Lombardei. Vor der Kapelle erwarten den Pilger die Hauptapostel des italienischen Radsports, Alfredo Binda, Gino Bartali und Fausto Coppi, in Form von Bronzebüsten. Auch dem umtriebigen Don Vigano wurde ein Denkmal gesetzt. Über 40 Jahre lang, bis 1985, war er als Pfarrer in Magreglio tätig.

Die Kapelle selbst ist kleiner als ihr Ruf; weswegen vor einigen Jahren direkt daneben ein Radsport-Museum gebaut wurde. Das Kirchlein ist gefüllt mit Rennrädern, Pokalen und Trikots: als Dank der Besitzer an die Madonna, von Fans wie Reliquien verehrt. Räder von Fausto Coppi, Eddy Merckx, Francesco Moser oder auch Alfonsina Strada, der ersten Frau, die 1924 beim Giro d'Italia der Männer mitfuhr. Rosa und Gelbe Trikots und solche von Weltmeistern füllen die Wände ebenso wie Fotos verstorbener Radsporthelden.

Vorne über dem Altar, abgetrennt durch einen schmiedeeisernen Lettner, hängt das Bildnis der stillenden Muttergottes. Weil der Radsport nicht so national gesinnt ist wie etwa der Fußball, stieg die Madonna di Ghisallo bald nach dem Papsterlass von 1949 zur Schutzpatronin aller Radsportler weltweit auf.

Von Roland Juchem (KNA)