Ein Vatikan-Archiv in weiblicher Hand
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Papier wiegt nicht so schwer wie Stein, aber federleicht ist es eben auch nicht. Deshalb sind Archive gerne zu ebener Erde oder tiefer untergebracht, so wie der "Bunker" genannte Hauptspeicher des vatikanischen Geheimarchivs. Anders das Petersdom-Archiv. Es liegt in luftiger Höhe über der größten Kirche der Christenheit, rund um eine ihrer Nebenkuppeln, und durch ein paar Fenster kann man von da ins Innere des Doms hinabschauen. Wenn der Papst zur Heiligen Messe schreitet wie immer Anfang November zur Feier für die verstorbenen Kardinäle und Bischöfe, dann sehen die Leute im Archiv ihn von oben als roten Punkt mit Bischofsmütze.
Ich fahre gern hinauf ins Bauhütten-Archiv. Der Lastenaufzug hinter der Südfassade des Petersdoms ruckelt mich nach oben, und wenn Simona Turriziani oder Assunta Di Sante mir die feuerfeste Eisentür zu ihrem Reich öffnen, weiß ich, dass mich wieder ein anregender Plausch über kuriose Details oder große Zusammenhänge der Baugeschichte von Sankt Peter erwartet. Meine beiden Freundinnen arbeiten hier mit einer Passion, einer Kompetenz und einer Gastlichkeit, wie man sie jedem Archiv der Welt wünschen möchte. Sie hüten in ihren 9.000 Bänden sämtliche Dokumente zum Bau und zur Ausstattung des Petersdoms: Skizzen, Zeichnungen und kühne Entwürfe, päpstliche Bullen, hitzige Briefwechsel einzelner Künstler mit bestimmten Kardinälen, Gerichtsurteile, nach Ländern sortierte Einnahmen aus dem Ablasshandel, Listen mit Namen, Dienstzeit und Sold aller Arbeiter Tag für Tag, und Rechnungen für Tausende Tonnen Marmor, jedes Gramm Blattgold und jeden Zementsack.
Räume des Archivs einst Atelier Michelangelos und Berninis
Kaffee gibt’s keinen bei Simona und Assunta, denn ihr Arbeitsplatz ist ein Nebenraum des Magazins, in dem all diese jahrhundertealten Dokumente lagern, und da wird nichts genippt oder gelöffelt. Die hohen, unverputzten Backsteingewölbe dienten einst Michelangelo und Bernini als Ateliers, sie sind originale Schöpfungen nach den Plänen von Bramante, der den Petersdom für den entscheidungsstarken Renaissance-Papst Julius II. entwarf. Keine Fresken sind hier anzuzeigen, kein Barockengel weit und breit, doch in der Mitte des einen achteckigen Raums ruht ein imposanter Altar aus der alten Petersbasilika. Die ließ Julius abreißen, um 1506 den Grundstein für den Petersdom in seiner heutigen Form zu legen. Sein Architekt Bramante ging als "maestro ruinante", als zerstörerischer Baumeister, in die Annalen ein.
Die Dokumente des Archivs lagern in formschönen Glasschränken, die kein Stäubchen verunziert – es ist mir ein Rätsel, wie das auf Dauer geht. Immer bevor Simona oder Assunta einen der beige-grauen alten Bände herausziehen, streifen sie sich weiße Baumwollhandschuhe über, die sogar nachher noch weiß sind. So wie überhaupt das Gepflegte und Wohlgeordnete als Leitmotiv dieser Dokumentensammlung gelten darf. Man meint die weibliche Hand zu spüren, die hier waltet. Tatsächlich ist das Petersdom-Archiv seit mehr als 20 Jahren von Frauen geführt, ungewöhnlich für vatikanische Verhältnisse.
Die erste wirkliche Leiterin, die dann Simona und Assunta dazuholte, war Schwester Teresa Todaro. 1997 fragte die Bauhütte die sizilianische Franziskanerin, eine ausgebilete Archivarin bei ihrer Ordensgemeinschaft, ob sie als Verantwortliche ans Generalarchiv des Petersdoms wechseln wollte. Sie wollte. Freilich wartete eine wahre Herkulesarbeit auf die resolute Ordensfrau, denn die Fährnisse des Archivs waren etwas abenteuerlich, wie mir Schwester Teresa einmal erzählte. Zwar hatte die Bauhütte seit 1506 alles aufgehoben, was an Dokumenten anfiel, aber nichts geordnet. Der Papierberg wuchs und wuchs. Anfang der 1960er Jahre ging Papst Paul VI. mit einem befreundeten Forscher durch das Dokumentenlager, staunte über das Chaos und sann auf Abhilfe. Aber erst Johannes Paul II. setzte Fakten. Er ließ das Petersdom-Archiv, das nicht einmal elektrisches Licht hatte, an seinen heutigen Ort umsiedeln und eine professionelle Archivarin anheuern – Schwester Teresa.
Nur dass die Franziskanerin halb der Schlag traf, als sie die Stätte ihres Wirkens zum ersten Mal sah: "Die Dokumente quollen aus den Kartons, sie lagen auf jedem Mauervorsprung und aufgetürmt auf dem Fußboden im Staub. Es schmerzte, das zu sehen", so Teresa Todaro. Sogleich habe sie sich an die Arbeit gemacht. Blatt für Blatt nahm sie in die Hand, überflog, ordnete, trug in Register ein. Nebenbei führte sie Kleinkrieg mit einem Kardinal, der im Archiv einen neuen Fußboden legen lassen wollte. Die 400 Jahre alten Fischgrät-Cotto-Ziegel blieben. Ein Triumph für die Schwester, die jedes Dokument und jede Bodenfliese ihres Reiches "mit gezücktem Schwert verteidigen würde", wie sie mir glaubhaft versicherte.
Archivarinnen mit Leib und Seele
Archivarinnen mit Leib und Seele sind auch ihre Nachfolgerinnen Simona und Assunta. Eine Arbeit Schwester Teresas fortführend, haben sie die weibliche Baugeschichte von Sankt Peter erforscht und vor zwei Jahren ein Buch darüber vorgelegt. Aus den Dokumenten des Bauhütten-Archivs geht nämlich hervor, dass mindestens 50 Handwerkerinnen, Unternehmerinnen, Arbeiterinnen an der Kirche des Papstes mitbauten, darunter die Lapislazuli-Künstlerin Francesca Bresciani, die den Tabernakel des Petersdoms schuf. Ein überraschender Befund, weil Frauen vom Allerheiligsten sonst gerne ferngehalten wurden.
Geheim ist das vatikanische Bauhütten-Archiv nicht und verschlossen auch nicht. Simona und Assunta öffnen die feuerfeste Eisentür pro Jahr ungefähr 200 Forschenden, die Zugang erbitten und erhalten. Was die Papiere in der Höhe des Petersdoms noch so alles an Geschichten und Geheimnissen freigeben werden?