Schon unsere frühen Vorfahren sangen – am liebsten gemeinsam

Bachkantate, "Stille Nacht" und Gospel-Song: Über das Singen

Veröffentlicht am 12.11.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Speyer ‐ "Singen kann jeder!" Diesen Satz hören wohl vor allem Menschen, die genau das nicht gerne tun. Dabei gibt es gute Gründe mit dem Singen anzufangen: Denn es klingt nicht nur schön und macht Spaß, es ist auch noch gut für die Gesundheit.

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Wenn ich an meine ersten Erfahrungen mit Singen denke, zieht sich mir heute noch alles zusammen. Im Musikunterricht in der Schule, als jeder einzeln vortreten und ein traditionelles Volkslied darbieten sollte, wählte ich "Die Gedanken sind frei", und fühlte mich alles andere als frei. Oder später im Kinderchor unserer katholischen Gemeinde, als ich in eine schon seit längerem bestehende Gruppe kam. Alle Kinder waren auf anderen Schulen, ich kannte niemanden und fühlte mich als Außenseiterin. Zudem war die Leiterin der Gruppe der Meinung, mein Gesang würde eher einem Brummen ähneln, stellte sich neben mich beim Singen und spitzte die Ohren und meinte dann, beim nächsten Lied sollte ich doch einfach mal zuhören. Bald darauf verließ ich den Kinderchor und schwor mir, mit Singen nichts mehr zu tun haben zu wollen.

Was war zuerst, Sprache oder Gesang?

Schon seit jeher fragen sich Wissenschaftler und Philosophen, warum der Mensch singt und wie er zum Singen kam. Diverse Theorien machen die Runde, vom Singen zum Vertreiben von Raubtieren oder dem Stärken des Gemeinschaftsgefühls. Untersuchungen bei Naturvölkern, wie beispielsweise in Brasilien, zeigen, dass Singen ein fester Bestandteil des Alltags heutiger Jäger und Sammler ist. Dies lässt darauf schließen, dass das auch schon vor Zehntausenden von Jahren so gewesen sein könnte. Mit dem gemeinsamen Gesang definieren sich die indigenen Völker als Gruppe und grenzen sich gegenüber rivalisierenden Stämmen ab. Trotz der Erkenntnisse, dass die Menschen wohl schon seit langem singen, gibt es immer wieder die Frage, was war zuerst: die Sprache oder der Gesang. Sicher ist, singen kann jeder. Die Werkzeuge sind genauso in der menschlichen Natur angelegt wie auch zum Sprechen, mit Lunge, Kehlkopf, Stimmbändern und Resonanzräumen, also dem gesamten Mund-, Nasen- und Rachenraum. Das Singen unterscheidet sich vom Sprechen nur insofern, als dass Töne länger gehalten und Vokale mehr gedehnt werden.

So waren also auch bei mir alle Voraussetzungen gegeben, und die Sangesleistungen einiger meiner Vorfahren lassen darauf schließen, dass auch ich nicht nur brummen kann. Mein geliebter Großvater Franz-Josef war ein großer Sänger, der jedes Mal in der Kirche seine volltönende Stimme so laut erklingen ließ, dass ich ihn heraushörte, obwohl ich vorne am Altar die Fürbitten vortrug, während er fast in der letzten Reihe unserer Kirche saß. Oder mein Vater, der in seiner Jugend begeistertes Mitglied im Gesangsverein seines Heimatortes war. Das hatte dann allerdings zur Folge, dass er meine Brüder und mich an Weihnachten immer zum Singen diverser Weihnachtslieder bringen wollte, was uns eher ein Graus war. Ihm und Großmutter zuliebe haben wir ein "Oh du fröhliche" oder "Stille Nacht" mitgesungen und uns dann, erleichtert darüber, dass es bis zum nächsten Weihnachten wieder vollbracht war, unseren Geschenken gewidmet.

Ein Mädchenchor aus Trier
Bild: ©pdp/ Ronald Pfaff

Junge Sängerinnen aus Trier beim abschließenden Pontifikalamt des Pueri-Cantores-Chorfestivals in Paderborn.

Sehr viele Jahre später war ich bei einer geführten Meditation dabei, und nach der Übung in Stille regte die Seminarleiterin an, noch ein gemeinsames Abschlusslied zu singen. Sofort war es wieder da, das Gefühl von Scham, von "nicht können" und "nicht wollen", alles, bloß nicht singen. Doch mittlerweile zählte ich schon einige Jahre und wollte mich nicht kindlich ausgeliefert fühlen, sondern für mich einstehen und kundtun, wie es mir damit geht. Also sagte ich, dass ich vieles könne, aber eben nicht singen. "Singen kann jeder. Lass es uns doch einfach versuchen, wir machen alle zusammen das Beste daraus", meinte die Meditationslehrerin. Nun ja, feige sein wollte ich auch nicht, sondern mich eher meiner Angst stellen. Und siehe da, es war nicht gerade berauschend, aber lange nicht so schlimm, wie ich es aus meiner Kindheit erinnerte. Es machte sogar etwas Spaß. Ab da ging ich regelmäßig zu einer Gruppe, die sich "Kraft des Kreises" nennt und einmal monatlich spirituelle und christliche Lieder aus aller Welt singt.

Singen ist gut für die Gesundheit

Der mehrfach preisgekrönte Film "Die Rede des Königs" (The King‘s Speech) erzählt die Geschichte des stottergeplagten Königs Georg VI., Vater der heutigen Königin Elisabeth II. von England. Er überwand seine Sprechprobleme auch mithilfe des Singens, denn beim Singen fließen die Worte ohne Pause ineinander über, das Stottern bleibt aus. Singen unter der Dusche stärkt das Immunsystem, egal ob schräg oder richtig gesungen. Klassischer Musik zu lauschen, entspannt sogar Ungeborene im Mutterleib. Forscher fanden heraus, dass das eigene Produzieren von Tönen immer noch am gesündesten ist. Die gesundheitsfördernde Wirkung des Singens gilt für Körper und Psyche gleichermaßen. Der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger begründete ab 2006 die "singenden Krankenhäuser", ein internationales Netzwerk zur Förderung des Singens in Gesundheitseinrichtungen. So wird im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch, wie in vielen anderen Kliniken auch, gemeinsames Singen als Therapie angeboten. An einem Abend der Woche kommen Kranke und Gesunde zwanglos zusammen und lassen, angeleitet und begleitet von den Musiktherapeuten der Klinik, Lieder aus aller Welt erklingen.

Seit einigen Jahren haben sich viele Liedermacherinnen und Songschreiber darauf spezialisiert, sogenannte Mitsingkonzerte anzubieten. Lieder mit kurzen, eher einfachen Texten, oft von den Musikern selber geschrieben und vertont, laden dazu ein, zuerst mal zuzuhören, und dann kräftig mitzumachen. Eine Liedermacherin, die mit ihren Konzerten regelmäßig Kirchen füllt, ist Iria Schärer. Die ausgebildete Psychologin bemerkte bei ihrer Tätigkeit im Krankenhaus, wie sehr sie die Kranken unterstützen kann durch gemeinsames Singen. Kurzerhand kündigte sie ihren Job und machte sich als Musikerin selbständig, veröffentlichte mehrere CDs mit ihrer eigenen Musik und macht mit bei Singabenden – wie beispielsweise "Singen wie im Himmel" in Immenstadt. Oder Hagara Feinbier aus Bad Belzig, die mit ihren mehrtägigen "Come Together Song Festivals" immer wieder Hunderte von Menschen zum gemeinsamen Singen und Tanzen bringt. Ihre große Leidenschaft ist es, traditionelle Lieder von Naturvölkern, zum Teil spiritueller Art, die oft nur von Mund zu Mund weitergegeben werden, aufzuschreiben und so für alle verfügbar zu machen. Bis jetzt hat sie drei dieser Liederbücher mit Noten veröffentlicht.

Der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle bei einem Auftritt in Moskau.
Bild: ©KNA

Der älteste Chor der Welt: Der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle, hier bei einem Auftritt in Moskau.

Unter dem Titel "Offenes Bürgersingen" wird in vielen Städten über die Sommermonate zum gemeinsamen Singen im Freien eingeladen. In Heidelberg beispielsweise veranstaltet die Bürgerstiftung das offene Singen, bei dem von Mai bis Ende September im Innenhof eines Museums jede Woche ein anderer Chor Pate steht, Lieder heraussucht und anleitet. So werden viele verschiedene Stilrichtungen angeboten, es übernehmen kirchliche und weltliche Chorgemeinschaften und private Singkreise die Leitung und bringen den Mitsingenden eine Vielfalt an Liedern nahe.

Singen im Chor als klassischer Beginn einer Singkarriere

Wer singen möchte, überlegt in der Regel zuerst, das in einem Chor zu tun. In meiner Kindheit waren sie omnipräsent, die Fischer-Chöre, und aus den bekannten Fernsehsendungen, die ich mit meinen Eltern und Brüdern samstagsabends schaute, nicht wegzudenken. Gotthilf Fischer als Chorleiter mehrerer Chöre aus dem Stuttgarter Raum hatte die Idee, seine Chöre gemeinsam auftreten zu lassen, und schaffte es Ende der siebziger Jahre ins Fernsehen. Die Fischer-Chöre waren geboren, brachten es zu großer Berühmtheit, produzierten Langspielplatten und traten mit bekannten Sängern auf. Und anscheinend hält Singen auch jung, denn Fischer, mittlerweile über 90 Jahre alt, ist immer noch aktiv und probt mit seinen Chören fünfmal die Woche.

Der Chor, dem man seine Sangesleistung gerne anbieten möchte, kann aus einer Vielzahl von Möglichkeiten ausgewählt werden. Zuerst steht die Frage nach kirchlich oder unabhängig im Raum. In kirchlichen Chören sind vorwiegend religiöse Lieder im Repertoire. Stilistisch setzen die unterschiedlichen Chöre Schwerpunkte – klassische Liedauswahl, oder eher Pop und Schlager, Jazz oder Gospel. Es gibt Männer- und Frauenchöre, gemischte Chöre oder Kinderchöre. Und sie unterscheiden sich in der Größe sowie in den Anforderungen und dem Niveau. Für  jeden ist etwas dabei. In Chören gesungen wird übrigens schon sehr lange. Der älteste Chor der Welt ist im Vatikan beheimatet, der Chor der Sixtinischen Kapelle. Nach 1.500 Jahren Chorgeschichte dürfen seit einiger Zeit auch Frauen mitsingen. Wer weiß, vielleicht hätte auch ich Chancen mitzumachen, obwohl der Beginn meiner ersten Singübungen gar nicht so vielversprechend war.

Also singen Sie, was Ihre Stimme hergibt, schräg, laut oder einfach hinreißend. Es lohnt sich und ist auch noch gesund!

Von Beate Steger

Das Magazin "der pilger"

Viele weitere interessante Beiträge finden Sie in der aktuellen Winter-Ausgabe des Magazins "der pilger – Magazin für die Reise durchs Leben", das bundesweit am Kiosk erhältlich ist. Weitere Themen im Magazin sind unter anderem: Meine Familie und ich - wie uns die Familie prägt, Pilgern im Winter, Bergmönche in Japan - ein Leben mit der Natur. Schwester Birgit aus dem Franziskanerinnen-Kloster Reute informiert über die vielfältige Wirkung der Ingwer-Wurzel.