Caritas-Präsident beklagt enorme soziale Schieflage in Deutschland
Das jüngste Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die neu eingeführte Grundrente haben in den vergangenen Wochen erneut zentrale Gerechtigkeitsfragen in die öffentliche Debatte gespült. Wie gerecht ist Deutschland? Tut der Staat genug, um armutsgefährdete Menschen zu unterstützen? Kann die Grundrente wirklich dabei helfen, Altersarmut zu verhindern? Im katholisch.de-Interview äußert sich der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, zu diesen Fragen. Außerdem spricht er über die sozialen Folgen des Klimawandels und den in Berlin geplanten Mietendeckel.
Frage: Herr Neher, der deutsche Staat gibt jedes Jahr Milliarden Euro aus, um Armut zu bekämpfen und für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Trotzdem hat eine wachsende Zahl von Menschen das Gefühl, dass es in Deutschland immer ungerechter zugeht. Wie ist dazu Ihre Einschätzung?
Neher: Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit resultiert vor allem aus der wachsenden Vermögensungleichheit, die in Deutschland tatsächlich sehr ausgeprägt ist. Zehn Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik besitzen heute mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens, und auf der anderen Seite haben 50 Prozent der Menschen praktisch gar kein Vermögen. Das ist eine enorme soziale Schieflage, die sich durch die zu erwartenden Erbschaften in den kommenden Jahren sogar noch weiter verschärfen wird ...
Frage: ... und der man mit den klassischen Mitteln des Sozialstaats und neuen Leistungen wie etwa der Grundrente kaum beikommen kann, oder?
Neher: Das Grundproblem der ungleichen Vermögensverteilung wird dadurch nicht gelöst, das stimmt. Hier müsste der Staat eher bei der Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften aktiv werden. Trotzdem haben soziale Leistungen wie die Grundrente gleich in doppelter Hinsicht eine wichtige Funktion. Zum einen erleichtern sie ganz konkret den Alltag von Millionen Menschen – bei der Grundrente werden es laut Bundesregierung bis zu als 1,5 Millionen sein. Vor allem aber helfen sie mit, das Gefühl der Ungerechtigkeit ein Stück weit zu lindern. Die Grundrente zeigt auch Menschen aus unteren Einkommensgruppen, dass ihre Lebensleistung anerkannt und honoriert wird.
„Die Grundrente ist ein Meilenstein, der das Leben vieler älterer Menschen spürbar verbessern wird.“
Frage: Kann die Grundrente denn so, wie sie von der Großen Koalition beschlossen worden ist, wirksam Altersarmut vorbeugen?
Neher: Sie kann dazu auf jeden Fall einen wichtigen Beitrag leisten. Um es klar zu sagen: Die Grundrente ist ein Meilenstein, der das Leben vieler älterer Menschen spürbar verbessern wird. Gleichwohl muss man konstatieren, dass die Anforderung von 35 Beitragsjahren als Voraussetzung für die Grundrente eine hohe Hürde ist. Hier wird man sehr genau schauen müssen, ob diese Grenze wirklich gut gewählt ist. Umso mehr begrüße ich, dass die Koalition eine Wirkungsprüfung vereinbart hat, um dieses Problem im Auge zu behalten. Der Gesetzgeber muss natürlich irgendwo eine Grenze ziehen – aber dass jemand, der beispielsweise "nur" 34 Beitragsjahre vorweisen kann, nicht in den Genuss der Grundrente kommt, sondern weiter in der Grundsicherung bleiben muss, ist den Betroffenen vermutlich nur schwer zu vermitteln. Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade in den unteren Einkommensgruppen die Erwerbsbiografie der Menschen oft nicht geradlinig war, dass es also Phasen von Arbeitslosigkeit, von längerer Krankheit oder von sogenannter atypischer Beschäftigung gab. Das macht es umso schwieriger, auf die nötigen 35 Jahre zu kommen.
Frage: Die Grundrente reiht sich ein in ein System von Sozialleistungen, das inzwischen selbst für Experten kaum noch zu überschauen ist und in dem jedes Jahr unzählige Milliarden Euro umverteilt werden. Trotzdem schafft es der Sozialstaat nicht, besonders gefährdete Gruppen wirkungsvoll und dauerhaft vor Armut zu schützen. Woran liegt das?
Neher: Das hängt unter anderem damit zusammen, dass einige Sozialleistungen – vor allem für Familien – nicht zielgenau genug gestaltet und mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden sind. Nehmen Sie etwa den Kinderzuschlag: Der war in den ersten Jahren so bürokratisch konzipiert, dass viele Familien abgeschreckt wurden, ihn überhaupt zu beantragen. Dieses Problem wurde mittlerweile zwar angegangen, ist aber immer noch nicht vollständig behoben. Ähnliches gilt auch für viele andere Sozialleistungen. Hinzu kommt: Gerade viele familienpolitische Leistungen sind oft nicht aufeinander abgestimmt. Dadurch ist es im Einzelfall schwierig, die einzelnen Leistungen wirkungsvoll einzusetzen und die Menschen gut zu unterstützen.
Frage: Würden Sie also für einen Abbau von Bürokratie und eine Bündelung der unterschiedlichen Hilfen plädieren?
Neher: Ja, auf jeden Fall. Allerdings müsste man vermutlich noch einen Schritt vorher ansetzen und zunächst genau analysieren, welche Sozialleistungen es überhaupt gibt. Denn wie Sie schon gesagt haben: Selbst für Experten ist das im Detail teilweise kaum mehr zu durchschauen. In einem zweiten Schritt sollte man dann – dort, wo es sinnvoll ist – einzelne Maßnahmen bündeln, damit die Unterstützung zielgenau bei den Menschen ankommt, die sie brauchen.
Frage: Blicken wir auf Hartz IV. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht vor Kurzem ein vielbeachtetes Urteil gesprochen, wonach allzu weitreichende Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger verfassungswidrig sind. Die "Bild"-Zeitung unkte danach, dass Betroffene künftig nur noch gefördert, aber nicht mehr gefordert würden. Wie bewerten Sie das Urteil?
Neher: Ich finde das Urteil absolut richtig. Es muss in unserem Sozialstaat für jeden die Sicherheit geben, dass ein würdevolles Leben möglich ist – dass das Existenzminimum also nicht durch Sanktionen in Frage gestellt wird. Dass hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil, wonach die Sozialleistungen maximal um 30 Prozent gekürzt werden dürfen, klar gemacht. Bislang war es möglich, bis zu 100 Prozent der Leistungen zu kürzen. Wer so sanktioniert wurde, wurde oftmals komplett aus der Bahn geworfen. Damit war niemandem gedient. Insofern glaube ich, dass durch das jetzt erfolgte Urteil das Leitmotiv der Hartz-Reformen – "Fordern und Fördern" – erst recht wieder stärker in eine Balance gebracht werden kann.
Frage: Was erwarten Sie denn nach diesem Urteil von der Politik?
Neher: Dass sie das Urteil zügig umsetzt. Und dass in diesem Zusammenhang auch die Sanktionen für junge Menschen unter 25 Jahren in den Blick genommen werden. Denn die Sanktionen für diese Gruppe waren ja nicht Bestandteil des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei jungen Menschen ist es weiterhin so, dass ihnen relativ schnell bis zu 100 Prozent des Regelsatzes gestrichen werden können. Derart drastische Sanktionen führen dazu, dass die Menschen ins Bodenlose fallen. Insofern fordern wir, dass die Grenzen, die das Bundesverfassungsgericht jetzt für Menschen über 25 Jahren gesetzt hat, auch bei Jüngeren Anwendung finden. Noch besser wäre es freilich, wenn bei jungen Erwachsenen künftig komplett auf Sanktionen verzichtet würde, weil dieses Mittel unserer Erfahrung nach keinerlei erzieherische Wirkung hat, sondern meist sogar das Gegenteil bewirkt.
Frage: Der Deutsche Caritasverband weist immer wieder auch auf die mangelhaften Teilhabemöglichkeiten von Hartz-IV-Empfängern am gesellschaftlichen Leben hin. Wäre das Urteil aus Ihrer Sicht eine Chance, die Hartz-Gesetze grundsätzlich zu überarbeiten und noch zu weiteren Verbesserungen für die Betroffenen zu kommen?
Neher: Unabhängig vom jüngsten Gerichtsurteil kritisieren wir in der Tat schon seit langem, dass die Hartz-IV-Regelsätze zu niedrig bemessen sind. Das hindert die Menschen ganz klar daran, angemessen am Leben teilzuhaben. Die Regelsätze sollen den tatsächlichen Bedarf der Bezieher für ihren Lebensunterhalt widerspiegeln – das tun sie aber nicht. Um ein Beispiel zu nennen: Die Digitalisierung bestimmt immer größere Teile unseres Alltags – etwa in Form von Angeboten, zum Beispiel für Kinderbetreuung in den Ferien, die meist nur noch über das Internet verfügbar sind. In den Regelsätzen wird das bislang nur unzureichend berücksichtigt, es gibt schlichtweg nicht genug Geld für IT-Geräte – und ich rede da nicht vom neuesten, schicksten Smartphone auf dem Markt. Die Regelsatzberechnung muss dringend auf den Prüfstand. Es muss viel genauer geschaut werden, welche Bedarfe berücksichtigt werden müssen, damit Hartz-IV-Empfänger besser am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
„Ökologie und die soziale Frage gehören zwingend zusammen, sonst wird der notwendige gesellschaftliche Konsens beim Klimaschutz nicht zu erreichen sein.“
Frage: Das große Thema unserer Zeit ist der Klimawandel. Der betrifft zwar grundsätzlich alle Menschen – ärmere Menschen stehen aber auch hier besonders unter Druck, weil allgemein davon ausgegangen wird, dass die Bekämpfung des Klimawandels mit höheren Lebenshaltungskosten verbunden sein wird. Oder kann der Klimaschutz auch sozialverträglich gestaltet werden?
Neher: Das muss er sogar! Ökologie und die soziale Frage gehören zwingend zusammen, sonst wird der notwendige gesellschaftliche Konsens beim Klimaschutz nicht zu erreichen sein. Bislang sehe ich aber noch nicht, dass die Politik diesen Grundsatz wirklich verinnerlicht hätte. Wenn man sich etwa das Klimapaket der Bundesregierung anschaut, sind darin zum Beispiel auch Maßnahmen zur Förderung der Elektromobilität enthalten, was ökologisch und wirtschaftlich sinnvoll sein mag. Aber: Viele Menschen mit niedrigen Einkommen haben nichts davon, weil sie sich die entsprechenden Elektroautos gar nicht leisten können. Deshalb ist es umso wichtiger, dass auch der öffentliche Nahverkehr deutlich stärker gefördert wird. Ähnliches gilt für die energetische Gebäudesanierung. Auch diese ist ökologisch und wirtschaftlich sicher wichtig. Wenn entsprechende Sanierungen aber dazu führen, dass die Mieten steigen und ärmere Menschen sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten können, ist das alles andere als sozialverträglich. Deshalb gilt: Der ökologische Umbau wird nur gelingen, wenn die Politik Ökologie, Ökonomie und die soziale Frage zusammen denkt.
Frage: Sie deuten es an: Die Wohnungsfrage hat sich in den vergangenen Jahren zu einer drängenden sozialen Frage entwickelt. Gerade in Großstädten und Ballungsräumen finden viele Menschen angesichts enorm gestiegener Mietkosten kaum noch eine bezahlbare Wohnung. Berlin will als Reaktion darauf als erstes Bundesland nun einen sogenannten Mietendeckel einführen. Was halten Sie von diesem Ansatz?
Neher: Ich bin kein Ökonom, aber ich habe erhebliche Zweifel, ob ein solcher Eingriff in die Marktmechanismen wirklich zielführend ist. Ich sehe eher die Gefahr, dass der Mietendeckel kontraproduktiv wirkt – und zwar in der Form, dass Investitionen in zusätzlichen Wohnraum und die Sanierung bestehender Wohnungen verhindert werden. Ich frage mich wirklich, wie man einen Investor unter den Bedingungen des Mietendeckels dazu bewegen will, neuen Wohnraum zu schaffen.
Frage: Was würden Sie stattdessen vorschlagen?
Neher: Um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, braucht es ein stärkeres Engagement der öffentlichen Hand. Bund, Länder und Gemeinden sollten da, wo es möglich ist, Grundstücke in ihrem Besitz noch stärker für den Neubau von Wohnungen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus braucht es dringend die bereits eingeleitete Stärkung des sozialen Wohnungsbaus, der in den vergangenen Jahren ja geradezu verkümmert ist. Zurzeit fallen jedes Jahr Tausende Wohnungen aus der Sozialbindung heraus; das muss durch den Neubau entsprechender Wohnungen mit einer langfristigen Sozialbindung, also etwa 25 oder sogar 30 Jahre, aufgefangen werden.