30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs

Kirche im östlichen Mitteleuropa: Zwischen Aufbruch und Stagnation

Veröffentlicht am 20.01.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Beim Zerfall der kommunistischen Diktaturen Ostmitteleuropas vor 30 Jahren spielte die katholische Kirche eine wichtige Rolle. Was ist aus der Euphorie von damals geworden? Katholisch.de hat die Situation der Kirche in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn genauer unter die Lupe genommen.

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Mit dem politischen Umbruch in den Staaten Ostmitteleuropas in den Jahren 1989 und 1990 ging auch eine große Aufbruchsstimmung in der katholischen Kirche dieser Länder einher: Nach der über 40 Jahre andauernden Unterdrückung durch kommunistische Machthaber in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn durfte sie endlich frei ihre Botschaft verkünden – ohne Angst vor Repressalien haben zu müssen. Doch die Kirche startete mit unterschiedlichen Ausgangspositionen: Während sie etwa in Polen eine Art Schutzraum der Bevölkerung gegen die Kommunisten und ihre Ideologie war, galt sie in der tschechischen Gesellschaft schon in präkommunistischer Zeit als fremdatriges Element. Und auch wenn sie vielerorts den Neuanfang mitgestalten konnte, lässt ihre Bindungskraft selbst in Ländern, in denen der Kommunismus die katholische Prägung nicht auslöschen konnte, zunehmend nach.

30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat katholisch.de die Lage der Kirche in Polen, Tschechien, der Slowakei und in Ungarn untersucht. Herausgekommen sind vier Kurzportäts der Länder. Der Fokus liegt dabei besonders auf der historischen Entwicklung der Kirche in den einzelnen Ländern, dem Verhältnis zwischen Kirche und Politik sowie dem kirchlichen Leben und dem Selbstverständnis der Gläubigen.

Kapitel 1: Polen

Polen: Ein vermeintlich konservatives Land

Bis zum Ende des Kommunismus spielte die katholische Kirche in Polen eine große Rolle. Auch heute noch besuchen fast 40 Prozent der Polen den Sonntagsgottesdienst. Trotzdem nimmt der Glauben seit wenigen Jahren immer weiter ab. Das liegt nicht nur am Tod des polnischen Papstes Johannes Paul II.

Geschichte

Aus dem Schatten der Geschichte sollte Polen im zehnten Jahrhundert ins Licht treten. Aus dem Adelsgeschlecht der Piasten gründete Herrscher Mieszko I. 966 den polnischen Staat. Mieszko nahm dabei wohl aus machtpolitischen Gründen das Christentum an: So konnte er unter dem Missionierungsvorwand das Gebiet ausweiten und verbesserte die Beziehungen zu anderen westlichen Herrschern. Nach dieser Christianisierung fasste der Glauben mit Bistumsgründungen in Gnesen bei Posen, Breslau und Kolberg schnell Fuß. Bis sich alle heidnischen Stämme zum Christentum bekannten, dauerte es aber noch etwa bis ins elfte Jahrhundert.

Mit Aufkommen der Reformation war Polen ein Land der Toleranz: 1573 setzt der Adel die "Konföderation von Warschau" durch, die eine Glaubensfreiheit regelte. Viele Lutheraner, Calvinisten, Mennoniten, Baptisten und Anabaptisten wanderten aus verschiedenen Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden nach Polen aus. Seit dem 14. Jahrhundert war Polen darüber hinaus eins der Länder, in dem weltweit die meisten Juden lebten. Auch wenn die Mehrzahl der Polen katholisch war, war es doch auch ein multiethnisches Land mit vielen Völkern, Religionen und Konfessionen.

1795 nutzten nach mehreren Kriegen die umgebenden Länder die Schwäche Polens und teilten das Gebiet unter sich auf. Den Staat Polen gab es nicht mehr. Besonders die katholische Kirche sorgte jedoch dafür, dass ein Nationalgefühl aufrechterhalten wurde. Mehr als 120 Jahre verschwand Polen von der Landkarte, bis 1918 die Republik ausgerufen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem das Land erneut zerrissen wurde, erstreckten sich die neuen Grenzen weiter in den Westen und in den Norden.

Kirche und Politik

Nach 1945 war Polen monoreligiös: Protestanten, vor allem Deutsche in den Städten, wurden vertrieben und Juden wurden zuvor im Holocaust ermordet. Dadurch dass Ostpolen an die Sowjetunion fiel, wurden die Orthodoxen durch diese Grenzverschiebung in den Westen förmlich abgeschnitten. Mit Machtergreifung des Kommunismus sollte die Volksrepublik zunächst im Stalinismus eine sozialistische und kommunistische Gesellschaft werden. Es war zwar nicht verboten, in die Kirche zu gehen, doch auf verschiedenen Wegen versuchte man, sie zu diskreditieren: Nach außen sollte sie frei sein, doch gegen den Staat konnte sie nicht vorgehen. Ganz kontrollieren konnte die kommunistische Partei die Kirche aber nicht, da sie mit der Weltkirche verbunden war. Darüber hinaus galt die Kirche immer als Zufluchtsort und Alliierter des Volkes, bestärkte die Polen damit in ihrem Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit. Seit Mitte der 1950er Jahre ließ der Druck des kommunistischen Staates auf die Kirche nach. 1965 schrieben die polnischen Bischöfe einen Brief an ihre deutschen Amtsbrüder. "Wir gewähren Vergebung und bitten um Verzeihung", hieß es in dem Schreiben, der einen wesentlichen Teil zur Aussöhnung Deutschlands mit Polen nach den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges beitrug.

Die Spannungen zwischen der Kirche und dem polnischen Staat blieben jedoch weiterhin bestehen. Zur 1000-Jahr-Feier der Taufe Polens 1966 ließ Parteichef Wladyslaw Gomulka zwar kirchliche Feierlichkeiten zu, obwohl er nicht als Freund der Kirche galt. Der Staat saß generell in der Konkurrenz zur Kirche jedoch am längeren Hebel, konnte also festlegen, welcher Raum der Kirche zugewiesen wurde. Zwischen beiden Seiten gab es eine Art Koexistenz. Als das Konklave 1978 mit Karol Wojtyla bzw. Johannes Paul II. einen Polen zum Papst wählte, war klar, dass die Kommunisten nicht mehr gegen die Kirche vorgehen würden.

Papst Johannes Paul II. in Polen
Bild: ©KNA-Bild/KNA

Papst Johannes Paul II. unterstützte und bekräftigte die Bewegung "Solidarnosc" in seinem Heimatland. Bis heute verehren die Polen ihn deswegen.

1980 steckte das Land in einer Wirtschaftskrise. Preissteigerungen setzen den ohnehin in schlechten Verhältnissen lebenden Polen zu. Mit der Solidarnosc gründete sich schließlich eine Gewerkschaft, die später maßgeblich für das Ende der Volksrepublik Polen sorgte. Sie ging aus einer Reihe von Protest-Bewegungen hervor und vereinte Arbeiter und Intellektuelle. Mit dabei: später bekannte Namen wie Lech Walesa, Anna Walentynowicz, Tadeusz Mazowiecki und Lech Kaczynski. Der Papst unterstützte und bekräftigte die Bewegung in seinem Heimatland. Bis heute verehren die Polen Johannes Paul II. deswegen. Mit diesem Ass im Ärmel und dem populären Anführer Lech Walesa war die Solidarnosc stark. Doch mit der Ausrufung des Kriegsrechtes konnte der kommunistische Staat 1981 die Solidarnosc brechen. Sie blieb verboten und agierte nun aus dem Untergrund. Die Proteste bleiben. 1989 sah der kommunistische Staat ein, dass gehandelt werden muss. Beim sogenannten "Runden Tisch" einigen sich Solidarnosc, die kommunistische Partei und die Kirche auf freie Wahlen. Polen wird zu einer demokratischen Republik.

Nach Ende des Kommunismus sah sich die Kirche als Sieger, sagt Andrzej Kaluza vom Deutschen Polen-Institut: "Sie stand auf der richtigen Seite, der der einfachen Leute, der Identität, der Sprache und Wahrheit." Seitdem verlange die Kirche Privilegien seitens des Staats: Sie habe als einzige Institution Restituierungen erhalten. Der Religionsunterricht kam in die Schulen. 1993 änderte sich das zuvor liberale Abtreibungsrecht dahingehend, dass ein Schwangerschaftsabbruch nur bei Gefahr der Mutter, schweren Missbildungen und Vergewaltigungen erfolgen darf. Damit herrschen in Polen mit die strengsten Abtreibungsgesetze in Europa.

Heute regiert in Polen mit der PiS ("Recht und Gerechtigkeit") eine nationalkonservative Partei, in der auch Kräfte Gehör finden, die die Abtreibungsregelungen noch weiter verschärft sehen wollen, indem auch schwerkranke oder missgebildete Kinder nicht mehr abgetrieben werden dürfen – obwohl die Mehrheit der Polen dagegenspreche. Insgesamt sehe sich die Partei als "Sprachrohr der Kirche". Nach außen gebe die PiS vor, ein guter Katholik müsse sie wählen. Die Kirche bevorzugt die Partei klar.

Jaroslaw Kaczynski
Bild: ©picture alliance/PAP

Jaroslaw Kaczynski ist Vorsitzender der polnischen Partei PiS ("Recht und Gerechtigkeit").

Liegt es also am katholischen Bild Polens, dass die PiS auch bei den jüngsten Wahlen so große Erfolge erzielen konnte? "Am Glauben sicherlich nicht", sagt Kaluza. Doch mit dem mittlerweile vor 30 Jahren beendeten Kommunismus habe das Einiges zu tun. Die PiS ähnele im Prinzip der kommunistischen Partei, auch wenn sie das geschickt verschleiern wolle. "Sie möchte die Freiheit, die es im Land gibt, wenn nicht beschneiden, dann doch stärker kontrollieren", sagt Kaluza über die PiS. Sie wolle einen starken Staat, der über andere bestimmt – in einem stärkeren Maße als das in der Demokratie möglich sei. Deshalb sage sie auch denen zu, die sich "eine starke Hand wünschen" und eigentlich eher die linke Basis bilden, wie etwa einfache Arbeiter. Die PiS baue genauso wie die kommunistische Partei auf Feindbilder wie die liberalen Medien, Menschenrechtler, linke Frauenbewegungen sowie die LGBT-Bewegung und nehme so diese Menschen unter ihre Fittiche. Der Lohn für die Polen: mehr soziale Sicherheit, eine patriotische Erinnerungspolitik, wieder ein Gefühl der Würde. "Sie hat genau erkannt, was die Leute wollen. Auch wenn all diese Leute nach außen antikommunistisch sind, so ähneln sie doch sehr diesen Strukturen", sagt Kaluza.

Glaubensleben und Selbstverständnis

In der freien Gesellschaft habe sich nach Ende des Kommunismus das Bild der Kirche gewandelt, sie werde als unterstützende Institution nicht mehr "gebraucht", sagt Kaluza. Polen sei immer noch ein katholisches Land, 87 Prozent der Polen sind Katholiken. Doch seit dem Tod Johannes Pauls II. sei es um die Kirche in Polen "sehr schlecht bestellt". Würdenträger seien in verschiedene Skandale verwickelt gewesen. 2017 besuchten nach Angaben des Statistischen Instituts der Kirche 38 Prozent der Katholiken den Sonntagsgottesdienst. 2005 – im Sterbejahr des polnischen Papstes – waren es noch 45, im Wendejahr 1989 knapp 47 Prozent. Vergleichsweise zu Deutschland mit neun Prozent Gottesdienstbesuchern 2018 sind es also noch hohe Zahlen, doch eine ähnliche Entwicklung wie in Westeuropa zeichnet sich in Polen trotzdem ab.

Anders als verbreitet seien nicht alle Polen so konservativ, wie es immer heiße. Dass sie sich zum Glauben bekennen, habe eher traditionelle Gründe. "Nach außen zeigen sie noch diesen Konservatismus, nach innen sicher nicht", sagt Kaluza. Die meisten Polen, selbst die, die auf dem Land leben oder von dort kommen, seien relativ modern, würden etwa Scheidungen, Lebensgemeinschaften ohne Trauschein oder selbst Schwangerschaftsabbrüche befürworten. Aus deutscher Perspektive sehe man immer eine volle Kirche, doch dass es in Gemeinden heute lediglich zwei Sonntagsgottesdiente gebe, während es früher fünf gewesen seien, bleibe dabei verwehrt. Kaluza beobachtet darüber hinaus, dass es einen großen Unterschied zur Kirche in Deutschland gebe. Viele Polen würden aus einer Art Routine zur Kirche gehen, könnten dabei Bekannte treffen: "Man hört zu und geht wieder zurück. Aber man wird weder aufgefordert, sich in der Kirche zu engagieren noch etwas für die Gesellschaft zu tun, für den Nachbarn oder Menschen in Not." Irgendwann würden diese Menschen auch nicht mehr in die Kirche gehen, denkt der Politologe. In den kommenden Jahren ist somit mit einem weiteren Rückgang der Gottesdienstteilnehmer zu rechnen.

Von Melanie Ploch

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Kapitel 2: Tschechien

Tschechien: Katholizismus als Symbol der Fremdbestimmung

Im Vergleich zu seinen Nachbarn spielt die Kirche in Tschechien nur eine marginale Rolle. Das ist allerdings mehr als eine Folge der kommunistischen Zeit: Das schwierige Verhältnis der Tschechen zum Katholizismus begann bereits im Spätmittelalter.

Geschichte

Böhmen und Mähren, die beiden tschechischen Landesteile, wurden etwa ab dem 9. Jahrhundert christianisiert – sozusagen von zwei Seiten. Einerseits ging die Mission vom fränkischen Reich aus, besonders aus Regensburg, dessen Bistum Böhmen zunächst angehörte. Andererseits brachte das Wirken der "Slawenapostel" Kyrill und Methodius Mähren sowie teilweise auch Böhmen in den Einflussbereich der östlichen Kirche. 973 wurde schließlich das Bistum Prag errichtet, ab diesem Zeitpunkt verfestigte sich eine kirchliche Struktur.

Böhmen war zwar Teil des Heiligen Römischen Reichs, genoss allerdings eine Sonderstellung: Ab 1085 erhielt der böhmische Fürst die Königswürde. Lange Zeit mächtigster Landesfürst im Reich, war der böhmische König mit Unterbrechungen Mitglied des Kurfürstenkollegiums und beteiligte sich somit an der Wahl des römisch-deutschen Königs – manchmal ging er aus dieser Abstimmung gar als Sieger hervor. Im Laufe des Mittelalters kam es immer wieder zu Spannungen zwischen den böhmischen Herrschern und der Kirche. Dabei ging es vor allem um die Abgrenzung der weltlichen und kirchlichen Machtbereiche, besonders die Übertragung hoher kirchlicher Ämter und Privilegien und die Ernennung von Bischöfen. Vorläufiger Höhepunkt war die Hinrichtung des Prager Generalvikars Johannes Nepomuk im Jahr 1393. Er durchkreuzte die Pläne des Königs, ein neues böhmisches Bistum zu gründen; daraufhin wurde er in Prag in die Moldau geworfen und ertrank.

Anfang des 15. Jahrhunderts bildete sich um den Prager Theologen Jan Hus eine kirchliche Reformbewegung. Hus kritisierte den weltlichen Besitz der Kirche und das Lasterleben des Klerus. 1413 hielt er fest, dass die Kirche eine hierarchiefreie Gemeinschaft sei, in der nur Christus das Oberhaupt sein könne. Er definierte die Kirche als Gemeinschaft der Prädestinierten, also aller von Gott erwählten Menschen. In der sichtbaren Kirche gebe es jedoch zudem auch die nicht erwählten Menschen, die das "corpus diaboli" bildeten: Laut Hus sind viele Häupter der Kirche in Wahrheit Glieder des Teufels. Das führte dazu, dass sich das Konzil von Konstanz (1414–1418) mit ihm beschäftigte. Hus sollte sich dort erklären und bekam freies Geleit zugesichert. Zunächst wurden die zuvor verhängte Exkommunikation und der Kirchenbann aufgehoben, doch 1415 verurteilte das Konzil Hus zum Tod durch den Scheiterhaufen. Nach seinem Tod kam es in Böhmen zu einer Welle der Verehrung, die lange nachwirken sollte. Doch um die Rezeption von Hus' Lehren entbrannten sich auch kriegerische Auseinandersetzungen.

Gemälde von Jan Hus
Bild: ©KNA

Ein Gemälde im Kreuzgang des historischen Dominikanerklosters zeigt Jan Hus als Gefangenen im Inselturm von Konstanz.

Neben den hussitischen konnten weitere reformatorische Ideen im Volk Fuß fassen. 1526 übernahm das katholische Haus Habsburg die Herrschaft über Böhmen. Die protestantischen Stände probten bald den Aufstand gegen die österreichischen Landesherren und erklärten 1619 die Unabhängigkeit Böhmens von Österreich. Die neu gewonnene Eigenständigkeit hielt aber nur kurz. Mit der Niederlage Böhmens in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag im Jahr 1620 wurde das Königreich wieder ins Habsburgerreich eingegliedert. Die Könige unterdrückten rigoros jeglichen Widerstand in der Bevölkerung und versuchten, Böhmen radikal zu rekatholisieren. Macherorts, vor allem in Südböhmen und in den meisten Gebieten Mährens, gelang das auch. Doch nach der Tötung Jan Hus' 200 Jahre zuvor setzte sich das Scheitern des protestantischen Aufstands und die darauffolgende Rekatholisierung im kollektiven Geädachnis als zweites "Trauma" fest.

Große Teile der böhmischen Bevölkerung setzten Katholizismus nun mit der Habsburger-Herrschaft und somit mit Fremdbestimmung gleich. Kein Wunder, dass sich die tschechische Nationalbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts bewusst von der katholischen Kirche abgrenzte. Umgekehrt begab sich auch die Kirche in eine Art Selbstisolation. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sie in der tschechischen Nationalgesellschaft, vor allem in Böhmen, immer stärker als ein fremdartiges Element verstanden.

Dieser Trend verstärkte sich nach der Gründung des tschechoslowakischen Staates im Jahre 1918. In Staat und Gesellschaft setzte sich eine zunehmend anti-katholische Stimmung fest, die zu einer großen Austrittswelle aus der katholischen Kirche führte. Zudem bekam sie Konkurrenz: 1920 gründete sich die Tschechoslowakische Hussitische Kirche – mit dem Anspruch, eine Nationalkirche zu werden.

Bild: ©picture alliance / Venek Svorcik

Der Prager Erzbischof Josef Beran durfte auf Anordnung der kommunistischen Machthaber nicht in seine Heimat zurückkehren.

An dieses schlechte Standing der Kirche konnten die Kommunisten nach ihrer Machtübernahme 1948 anknüpfen. Sie fuhren einen repressiven Kurs gegen alles Katholische. Da der tschechoslowakische Staat den Kontakt mit dem Vatikan abbrach, waren offizielle Bischofsernennungen kaum möglich. Die Kirche in der Tschechoslowakei begann somit, im Untergrund zu arbeiten: Priester und Bischöfe wurden häufig im Geheimen geweiht. Im Oktober 1949 richtete das Regime ein staatliches Kirchenamt ein, mit dem das gesamte kirchliche Leben überwacht und gesteuert werden sollte. Geistliche wurden interniert, inhaftiert und an der Ausübung ihrer Ämter gehindert. So durfte beispielsweise der Prager Kardinal Josef Beran 1965 von einer Reise nach Rom nicht wieder in die Tschechoslowakei zurückkehren.

Vor der politischen Wende im November 1989 sowie in den Monaten danach wurde die katholische Kirche als eine der wichtigsten Oppositionskräfte wahrgenommen. Das Vertrauen in sie und an ihre Integrationskraft war damals außerordentlich hoch. Viele Erwartungen wurden zudem an sie geknüpft: Sie könne beispielsweise ihre Kompetenz zur Lösung gesellschaftlicher Probleme einbringen, glaubte man damals. Manche Gläubige waren sogar überzeugt, das Christentum habe in der postkommunistischen Ära die Chance, ein Vakuum nach dem Fall der marxistischen Ideologie zu füllen und eine weltanschauliche Alternative zu bieten. Doch diese Überzeugung erwies sich als illusorisch, sodass die katholische Kirche heute nur eine marginale Rolle in der tschechischen Gesellschaft spielt. In der Slowakei, die 1993 ein eigenständiger Staat wurde, ist das anders: Hier ist die Kirche nach wie vor ein bedeutender Faktor im Leben der Menschen.

Kirche und Politik

Einen großen Beitrag leistete die Kirche bei der Versöhnung Tschechiens mit Österreich und Deutschland. Belastet wurde das Verhältnis zwischen Kirche und Staat allerdings lange Zeit durch die Frage nach der Rückgabe kirchlichen Eigentums, das unter kommunistischer Herrschaft eingezogen worden war. Dem nach schier endlosen Debatten 2012 verabschiedeten Restitutionsgesetz zufolge erhält die Kirche den ihr nach 1948 geraubten Besitz zurück. Zudem wurde eine finanzielle Entschädigung für nicht mehr restituierbare Immobilien und Bodenstücke beschlossen. Ende 2017 brachte die aktuelle Regierung unter Ministerpräsident Andrej Babis allerdings ein Gesetz auf dem Weg, dass eine Besteuerung dieser Zahlungen vorsah – ein Entgegenkommen an die kommunistische Partei, die dafür die Regierung tolerierte. Doch das Verfassungsgericht kassierte den Beschluss schließlich Anfang 2019.

Mit ihrer populistischen Politik spaltet die Babis-Regierung das Land in Befürworter und Gegner. Das macht auch nicht vor den Katholiken halt – und überträgt sich sogar auf die Hierarchie. Vor allem der Prager Kardinal Dominik sieht sich oft mit dem Vorwurf konfrontiert, sich an die politischen Entscheidungsträger anzubiedern. Wortführer der Kririker ist ausgerechnet ein Priester: Tomas Halik, international bekannter Prager Soziologieprofessor und einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes.

Glaubensleben und Selbstverständnis

Um das Glaubensleben ist es in Tschechien sehr schlecht bestellt. Auch wenn sich im mährischen Landesteil noch eine Bindung zur Kirche festtellen lässt: Laut Renovabis sind dem Taufschein nach nur noch 10,4 Prozent der Tschechen römisch-katholisch, seit der Wendezeit diese Zahl kontinuierlich gesunken. Doch es gibt auch Lichtblicke: Trotz aller Schwierigkeiten profiliert sich die katholische Kirche stark als eine im Sozialbereich aktive Institution. Sie trägt Krankenhäuser und soziale Einrichtungen wie etwa die Hospizpflege. Gleichzeitig sorgt die Kirche für den Unterhalt von vielen Schulen. Das wird von den Menschen wahrgenommen und geschätzt.

Von Matthias Altmann

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Kapitel 3: Slowakei

Slowakei: Katholische Kirche zwischen West und Ost

Ein Land an der Grenze zwischen Ost und West: So kann man die heutige Slowakei zumindest religionsgeschichtlich sehen. Gerade im letzten Jahrhundert wurden die Geschicke des Landes entscheidend durch die katholische Kirche beeinflusst – was diese bis heute prägt.

Geschichte

Auf dem Gebiet der heutigen Slowakischen Republik treffen westliche und östliche religiöse Einflüsse aufeinander. "Vom 8. bis 10. Jahrhundert ist unklar, ob Rom oder Konstantinopel für die Region entscheidend sein sollte", sagt Martin Zückert vom Collegium Carolinum der Ludwig-Maximilians-Universität München. Laut einer Chronik aus dem späten 9. Jahrhundert soll der Salzburger Erzbischof Adalram 830 die erste Kirche der Region geweiht haben. Der Ort wird mit "Nitrava" benannt, das mit dem modernen Nitra identisch sein könnte. Auch aus dem Bistum Passau kommen Missionare in die Landstriche nördlich der Donau.

Jedes Jahr am 5. Juli begehen die Slowaken den Gedenktag der heiligen Kyrill und Method als Feiertag. Die beiden "Slawenapostel" übersetzen die heiligen Schriften ins Altkirchenslawische. Während die lateinisch-predigenden fränkischen Missionare Dolmetscher brauchen, können die Menschen die Frohe Botschaft nun direkt verstehen – ein großer Vorteil für die Christianisierung. Auch die Liturgie nach byzantinischem Ritus wird in dieser Sprache gefeiert. Für einige Zeit existieren lateinische und byzantinische Formen nebeneinander, konkurrieren oder vermischen sich miteinander. "Durchgesetzt hat sich die Orientierung nach Westen, bedingt durch politische Einflüsse wie das Entstehen des Königreichs Ungarn und dessen Christianisierung", so Zückert. Die Region wird als "Oberungarn" für fast 1.000 Jahre Teil dieses römisch-katholischen Vielvölkerreichs.

Anders als in den benachbarten Gebieten des heutigen Tschechiens bleibt Oberungarn von hussitischen Ideen weitestgehend unberührt. "Eine entscheidende Bedeutung hat dann die Reformation nach Martin Luther", sagt Zückert. Der Protestantismus fasst zuerst bei deutschen Bürgern in den Städten Fuß, breitet sich phasenweise aber auch in breiten Bevölkerungsschichten aus. Doch mit der Zeit werden die protestantischen Gläubigen durch Einschränkungen in den Hintergrund oder sogar den Untergrund gedrängt.

Die neue Holzkirche im isländischen Reydarfjördur wurde in der Slowakei gebaut und in Einzelteilen in den Norden gebracht.
Bild: ©Kapuzinerkloster Reydarfjördur

Diese Holzkirche befindet sich zwar im isländischen Reydarfjördur, wurde aber in der Slowakei gebaut und in Einzelteilen in den Norden gebracht. Solche Kirchenbauten sind typisch für die ländlichen Gebiete der Slowakei.

Ganz im Osten der Slowakei haben sich die Einflüsse der byzantinischen Mission bis in die Gegenwart gehalten. Dort kommt es 1646 zur Union von Uschhorod, eine Stadt an der heutigen slowakisch-ukrainischen Grenze. Hier wird die Entstehung einer griechisch-katholischen Kirche vereinbart. Das heißt, orthodoxe Kirchen der Region unterwerfen sich der Oberhoheit des Papstes in Rom, dürfen aber ihren byzantinischen Ritus und überlieferte Traditionen beibehalten. Doch einige orthodoxe Kirchen mit starkem Russlandbezug bleiben bestehen, wodurch sich in der Region eine gewisse Konkurrenz entwickelt.

Die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts ist noch sehr durch eine kleine Intellektuellenschicht slowakischer Protestanten geprägt, die auch versuchen, die slowakische Sprache zu kodifizieren. Die um 1900 aufkeimende Autonomiebestrebungen werden jedoch bald von Katholiken dominiert, insbesondere nach 1918. Dass sich die neugegründete Tschechoslowakei als laizistischer Staat versteht und eine klare Trennung von Kirche und Staat erreichen möchte, sowie später mehr oder weniger offen die protestantische oder hussitische Kirche fördert, führt zu Widerständen in der mehrheitlich katholischen Bevölkerung der Slowakei.

Gegen die protestantischen Slowaken aber auch – vor allem – gegen die Regierung in Prag, positioniert sich die slowakische Volkspartei unter der Führung von Andrej Hlinka, "eines katholischen Priesters, der 1907 im Kontext pro-slowakischer und anti-ungarischer Aktivitäten bekannt geworden war". Mit zunehmend autonomistischer Perspektive habe seine Partei laut Zückert "die Unterschiede zwischen dem – noch wenig urbanisierten und wenig industrialisierten – slowakischen Landesteil und dem tschechischen instrumentalisiert, immer mit der Behauptung ersterer werde benachteiligt." Das seien keine per se kirchlichen Gründe gewesen, aber daraus ergab sich eine "Gemengelage, in der man sich kirchlich-kulturell überformt oder angegriffen fühlte und sich zugleich sozial-ökonomisch-politisch unter Druck sah". Die Partei feiert große Erfolge, kann die Trennung von Tschechien aber vorerst nicht erreichen.

Jozef Tiso
Bild: ©picture-alliance/akg-images

Jozef Tiso war ein römisch-katholischer Priester sowie slowakischer Politiker. Als Präsident der Slowakei kollaborierte er von 1939 bis 1945 mit NS-Deutschland.

Das gelingt erst einem weiteren Priester: Jozef Tiso. "Es stellt sich bei einem Mann wie Tiso die Frage, ob er mehr nationalistischer Politiker oder überhaupt noch katholischer Priester war", betont Zückert. Denn er erreicht die Autonomie von Tschechien und letztlich die Begründung eines unabhängigen slowakischen Staates durch die Kooperation mit Adolf Hitler: Die Slowakei ist von 1939 bis 1945 Satellitenstaat des nationalsozialistischen Deutschlands. Aus den konservativen Positionen der katholischen Kirche der Zeit sei es jedoch gelungen, eine Art modus vivendi zu einer Ideologie, die eigentlich konträr zu christlichen Vorstellungen steht, zu finden, so Zückert. Und während man massiv in den slowakischen Staat eingreift, verfolgt man das kirchliche Geschehen in Berlin allenfalls mit einer gewissen Skepsis. "Die katholische Kirche erlebt diese Zeit als Hochphase, weil sie ihre öffentliche Präsenz durch den Priester und Präsidenten Jozef Tiso nochmal ausbauen kann."

Ganz anders die Zeit nach der sowjetischen Machtübernahme nach 1948 und der Wiederherstellung einer Tschechoslowakei: Eine der Maßnahmen der Sowjetregierung ist, die griechisch-katholische Kirche zu verbieten beziehungsweise sie offiziell der russisch-orthodoxen Kirche anzugliedern. "So will man Einflüsse von außen, also vonseiten des Vatikans, verringern." Anders als in Tschechien, wo die griechisch-katholische Kirche vollständig untergeht, überlebt sie in der Slowakei. "Das liegt auch daran, dass man sich hier eher in der Provinz befindet", sagt Zückert.

Die römisch-katholische Kirche der Sowjetzeit prägen drei wesentlichen Entwicklungen: "Es gibt partiell Zusammenarbeit, durch Priestergemeinschaften, die auf ein Auskommen mit dem Regime hinarbeiten." Die offizielle Kirche grenzt sich klar vom System ab, muss dafür jedoch Repressalien erdulden: Bischofssitze bleiben vakant, Priester und Ordensleute werden verfolgt. "Die offizielle Kirche versucht, am Leben zu bleiben, Strukturen unter schweren Bedingungen zu bewahren und kirchliche Riten und Gottesdienste weiterhin durchzuführen. In der ländlich geprägten Slowakei gelingt das auch noch relativ gut und besser als im tschechischen Landesteil. Dort schaffen es die Kommunisten relativ bald, die katholische Alltagspraxis stark zurückzudrängen."

Eine dritte Richtung stellt die sogenannte Geheimkirche, Untergrundkirche oder unsichtbare Kirche dar. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für diese relativ kleinen Untergrundstrukturen, weil sie nicht einheitlich organisiert agieren. Die vielerorts von Laien geprägten Gemeinschaften versuchen, den katholischen Glauben insbesondere über die Jugendarbeit auch an die nächsten Generationen weiterzugeben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gehen diese Untergrundkirchen in der Amtskirche auf – ohne dass dabei Reform-Impulse aus den Gemeinschaften mitaufgenommen werden.

Kirche und Politik

Die jüngere Vergangenheit prägt die Kirche in einem der katholischsten Länder Europas sehr. Laut einer Volkszählung im Jahr 2011 bekennen sich 62 Prozent der Slowaken zur römisch-katholischen Kirche, dazu kommen knapp vier Prozent griechisch-katholischer Christen. "Aus westlicher Perspektive wundert man sich manchmal darüber, wie konservativ die Kirche in weiten Teilen der Slowakei ist", sagt Martin Zückert. Das hängt damit zusammen, dass man sich in der Sowjetzeit als Schutzraum sowohl für das katholische Bekenntnis als auch für die slowakische Nation verstand. Und bis heute würde sich dieser Gedanke bei vielen Repräsentanten der Kirche halten. Zudem hätten "Entwicklungen, die in Westdeutschland oder Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend waren, hier nicht oder verzögert oder nur bedingt stattgefunden." Das treffe beispielweise auf die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils zu.

In der Slowakei sind katholische Kirche und Staat heute nicht vollständig voneinander getrennt. Der klare ideologische Gegner ist gewichen, stattdessen finden sich auch in der seit 2006 stimmenstärksten "SMER-SD"-Partei, die für gewöhnlich im links-liberalen oder sozialdemokratischen Lager verordnet wird, durchaus kirchennahe Positionen. So erließ die Regierung vor zwei Jahren ein Gesetz, das wichtige katholische Feste zu gesetzlichen Feiertagen machte. Und nach jahrelangem Ringen konnten sich die Kirchen des Landes mit der Regierung auf eine Neuregelung der staatlichen Mitfinanzierung aller anerkannten religiösen Gemeinschaften in der Slowakei einigen.

Als Religionsgemeinschaft der Mehrheit hat die katholische Kirche auf das Gesellschaftsleben in der Slowakei noch immer Einfluss. Nach Einschätzung von Tibor Reimer, einem Salesianerpater aus Bratislava, teilen auch viele katholische Jugendliche das von der Kirche propagierte klassische Familienbild oder eine eher ablehnende Haltung gegenüber LGBT-Personen. Der letzte "Marsch für das Leben" brachte in Bratislava Tausende Menschen auf die Straße. Doch bisher konnte das die Regierung nicht dazu bewegen, das noch aus Sowjetzeiten stammende, liberale Abtreibungsgesetz zu reformieren.

Glaubensleben und Selbstverständnis

"Dass die Kirche gegen Abtreibung oder LGBT-Personen ist, wird von vielen nicht kritisiert", sagt Reimer. Denn die Kirche, mit der die meisten Menschen in Kontakt kommen, seien ja nicht die Bischöfe. Und wie in der Pfarrei an der Peripherie von Bratislava, wo Reimer und seine Mitbrüder eingesetzt sind, ist die Kirche vielerorts wichtige Trägerin sozial-karitativer Einrichtungen. In Reimers Stadtpfarrei unterhält sie etwa ein Familienzentrum, das sowohl medizinische Versorgung bietet als auch einen Fußballclub für 500 Kinder.

Sonntags haben die Geschäfte in der Slowakei offen. "Wer sonntags arbeitet, bekommt dafür einen Lohnaufschlag, das ist natürlich für viele Menschen in der Slowakei attraktiv", so Reimer. Trotzdem sind die Kirchenbänke nicht leer: "Wir haben am Sonntag fünf Messen und die sind eigentlich alle voll." Es kommen jeden Sonntag wohl 3.000 Gläubige. Seine Stadtpfarrei umfasst 30.000 Einwohner, das sind also zehn Prozent. "Die Religiosität – auch im Hinblick auf die Sonntagsmesse – ist auf dem Land und im Osten der Slowakei größer", sagt Reimer. Das religiöse Leben in den Großstädten sei zwar weniger traditionell, dafür aber viel lebendiger und vielfältiger.

Während die offizielle Kirche in der Sowjetzeit gegängelt wurde, waren "die Wallfahrten eine Reaktion der Laien gegen den Kommunismus", sagt Reimer. Und bis heute haben sie großen Zulauf: "Die Menschen pilgern vor allem nach Šaštín, dort wird die Mutter der Sieben Schmerzen, die Patronin der Slowakei, verehrt." Daneben gibt es "in Levoča eine sehr große Wallfahrt. Das ist immer Anfang Juli, da kommen 300.000 bis 400.000 Leute hin. Die Slowaken lieben diese Wallfahrten." Daneben seien Frömmigkeitstraditionen wie der Herz-Jesu-Freitag an jedem ersten Freitag im Monat noch sehr beliebt, das könne Reimer auch in seiner Pfarrei beobachten.

Von Cornelius Stiegemann

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Kapitel 4: Ungarn

Ungarn: Katholische Identität unter fremden Herrschern

Schon seit der ersten Stunde Ungarns spielt die katholische Kirche eine zentrale Rolle in der Identität des Landes. Nichts desto weniger wurde ihre Stellung immer wieder herausgefordert: Durch wechselnde Herrscher und eine wachsende religiöse Vielfalt.

Geschichte

Die Religion spielt für die ungarische Identität eine außerordentlich große Rolle. Nachdem sich die Magyaren während der Völkerwanderung im Karpatenbecken angesiedelt hatten, entstand das Königreich Ungarn im Jahr 1000. König Stephan I. empfing die Krone damals von Papst Silvester II. persönlich. Stephan wurde der Nationalheilige des Landes, sein Gedenktag am 20. April ist bis heute ein Feiertag. Er entwarf ein für damalige Verhältnisse modernes Staatswesen mitsamt einem für alle verbindlichen Gesetzbuch. Zudem organisierte er das Land durch die Gründung von Bistümern und Klöstern sowie den Bau von Kirchen. Mindestens einmal im Monat musste jeder Ungar die Heilige Messe besuchen. Zusätzlich war die Kirche mit dem Bildungswesen und karitativen Diensten betraut, kirchliche Institutionen waren für den Staat elementar. Seit der Gründung des Königreichs, das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bestand, waren Land und Leute also eng mit der katholischen Kirche verbunden.

Doch die Katholiken blieben nicht allein: Mit der Reformation wurde Ungarn ein multireligiöses Land, dessen Konfessionen überwiegend friedlich nebeneinander lebten. Während die Mitglieder der lutherischen Kirche allerdings vor allem Deutsche waren, waren die Calvinisten beinahe ausschließlich Ungarn. Das sorgte dafür, dass in manchem Geschichtsbuch des 19. und 20. Jahrhunderts der Calvinismus als eigentliche ungarische Konfession galt.

Dieser identitätshistorische Kunstgriff erklärt sich aus der zwiespältigen Rolle der katholischen Kirche im Land. Denn obwohl sie die ursprüngliche Konfession der Gründungsgeneration des Landes war, war sie auch die Religion der Habsburger, die das Land ab dem 17. Jahrhundert vollständig beherrschten. Die Bande zwischen Monarchie und Kirche waren eng, bis 1884 war der Katholizismus Staatskirche. Erst danach gab es eine Art Säkularisation, der König behielt sich aber das Patronatsrecht vor und konnte so landesweit die Bischofs- und Kanonikerposten nach seinem Gutdünken vergeben. Das Königshaus hielt die Kirche also weiter an der kurzen Leine.

Bild: ©www.neo-cortex.fr / Fotolia.com

Die Lehren des französischen Reformators Johannes Calvin (1509-1564) prägten auch Ungarn nachhaltig.

Diese Symbiose hatte auf die Wahrnehmung der Kirche in der Bevölkerung eine zweischneidige Wirkung: Ungarische Nationalisten sahen in ihr Diener der Fremdherrschaft. Allerdings verteidigten Kirchenvertreter auch die Rechte der Ungarn und setzten sich für sie ein. In Verbindung mit den kirchlichen Schulen und Sozialeinrichtung sorgte das durchaus auch für ein positives Image der Kirche.

Ganz anders stand sie im Kommunismus da. In einer ersten Phase von 1945 bis Ende der 1950 beziehungsweise Anfang der 1960er Jahre, die vom Stalinismus geprägt war, fuhren die neuen Machthaber einen harten Kurs gegen die katholische Kirche. Der ungarische Diktator Mátyás Rákosi bezeichnete sie als "reaktionäre Kraft, die die Monarchie und den Faschismus unterstützt". Staatliche Schulen und Krankenhäuser wurden verstaatlicht, die Orden aufgelöst und deren Angehörige deportiert. Zusätzlich wurde Fürstprimas Joseph Mindszenty wegen Verschwörung verhaftet und gefoltert. In einem Schauprozess wurde der Esztergomer Kardinal zu lebenslanger Haft verurteilt. Während des Volksaufstands in Ungarn 1956 wurde er jedoch freigelassen und floh in die US-Botschaft in Budapest.

Die kommunistischen Machthaber sahen bald ein, dass sie die katholische Kirche nicht so schnell zerstören konnten, wie sie gedacht hatten. Deshalb wechselten sie die Taktik – und griffen in Sachen Kontrolle durch Bischofsernennungen auf das Modell der Habsburger zurück. Durch ihnen genehme Oberhirten sollte die Kirche die Macht der Partei legitimieren. Gleichzeitig versuchten die Kommunisten, mit Propaganda gegen die Kirche anzugehen.

Nach der Wende erfuhr die Kirche einen Aufschwung in der Gesellschaft und gewann an Ansehen wie Rückhalt, zudem wurden Orden wieder erlaubt. Eine Kirchensteuer und eine offizielle Kirchenmitgliedschaft wie in Deutschland gibt es zwar nicht, jeder Bürger kann aber ein Prozent der Einkommenssteuer an eine Religionsgemeinschaft zahlen.

Kirche und Politik

Durch die Erfahrungen des Kommunismus ist die katholische Kirche in Ungarn bis heute eher konservativ. Die Einengung und Diskriminierung haben zu einer Verteidigungshaltung geführt, die der Kirche auch heute noch anhängt. Platz für Reformen blieb da wenig. Den sozialistisch-liberalen Regierungskoalitionen der Nachwendezeit begegnete die Kirche deshalb mit Befremden. Erst mit dem Amtsantritt von Viktor Orbán 2010 bekam die Kirche finanzielle Sicherheit und sah ihre Themen – beispielsweise der Umgang mit der Gender-Frage – politisch vertreten.

Dennoch begann vor etwa vier bis sechs Jahren eine zaghafte, langsame Distanzierung eines Teils der Kirchenleitung von Orbán. Grund dafür sind immer wieder aufkommende Korruptionsvorwürfe sowie der breite Machtradius der Regierung. Durch ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament kann sie auch Projekte durchsetzen, die den Interessen der Kirche entgegenstehen.

Bild: ©katholisch.de

Kardinal Peter Erdö, Erzbischof von Esztergom-Budapest, ist der Primas von Ungarn.

Allerdings bleibt sie vorsichtig, denn keine der Oppositionsparteien teilt so viele Überzeugungen der Kirche wie Orbáns Partei Fidesz. Außerdem ist vielen Kirchenoberen klar, dass vor allem der amtierende Regierungschef die Stellung der Kirche in der Gesellschaft nicht in Frage stellt und ihre Finanzierung sichert. Deshalb halten ihm viele Bischöfe weiter die Treue.

Glaubensleben und Selbstverständnis

Das nach den Umbrüchen des Jahres 1989 gestiegene Interesse der Menschen an der Kirche und dem damit verbundenen höheren Gottesdienstbesuch war nur von kurzer Dauer. Heute wirken in Ungarn die gleichen Phänomene wie in den Staaten Westeuropas. Spätestens seit Ende der 1990er Jahre haben sich die Unterschiede marginalisiert.

Die Bevölkerung lässt sich in etwa drei Gruppen einteilen: Etwa ein Drittel der Menschen fühlt sich der Kirche eng verbunden und lebt nach ihren Geboten. Dazu gehört auch der Besuch der Heiligen Messe am Sonntag. Doch nur zwischen fünf und zehn Prozent der Ungarn gehen regelmäßig in die Kirche. Ein weiteres Drittel der Menschen sieht die Kirche zwar positiv, hat aber keine enge Bindung zu ihr. Wiederum ein weiteres Drittel steht der Kirche kritisch bis feindlich gegenüber. Wirklich überzeugte Atheisten sind aber nur fünf Prozent der Menschen im Land.

Ungeachtet der persönlichen Frömmigkeit ist der Katholizismus bis heute ein fester Bestandteil der ungarischen Identität. Als praktizierter Glaube weniger gefragt, ist er elementarer Teil der Kultur und des Nationalgefühls der Ungarn.

Von Christoph Paul Hartmann

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Von M. Altmann, C. P. Hartmann, M. Ploch und C. Stiegemann