Franziskus und die freie Rede: Der abweichende Papst
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Wenn mein Chef den Kopf vom Blatt hebt, wird es spannend, denn dann redet er vorbei am Vorbereiteten. Ich habe das Phänomen des abweichenden Papstes an dieser Stelle schon einmal gestreift. Franziskus wirft dann etwas in die Runde, das ihm förmlich auf der Zunge brennt, er verfestigt einen Gedanken per Blitz-Erzählung, er bringt eine Episode aus dem "anderen Bistum", Buenos Aires, die der Redenschreiber jetzt nicht so präsent hatte. Auch frühere Päpste sind mal vom Blatt abgewichen, aber Franziskus legt sich da, wie es scheint, gar keinen Zwang mehr an. Er ist so frei.
Johannes Paul I. kam in seinen 33 Tagen im Amt wenig zu Wort, fand aber die Zeit, bei einer Audienz über Gott, der "Vater und mehr noch Mutter" sei, zu improvisieren. "A braccio", frei übersetzt: aus dem Handgelenk, schüttelte sein Nachfolger Johannes Paul II. in Sizilien 1993 mächtige Drohworte gegen die Mafia. Die Stimme zitterte ihm vor Wut, als er im Namen des Gekreuzigten und Auferstandenen die Morde der Cosa Nostra verurteilte. "Bekehrt euch!", schleuderte er den italienischen Terroristen entgegen, "eines Tages kommt das Gericht Gottes!"
Und wie elegant machte das damals Papst Benedikt XVI. in „Licht der Welt“ (2010), einem seiner Interviewbücher mit Peter Seewald. Da hat der deutsche Papst tatsächlich die Nutzung von Kondomen durch männliche Prostituierte gebilligt, um im Sinn des Lebensschutzes ein schlimmeres Übel, Aids, einzudämmen. Dass das im geltenden Lehramt quer steckt wie eine Fischgräte im Hals einer Friedenstaube, wusste kaum jemand besser als der Theologenpapst selbst. Darum hat er die Aussage ja nicht in einen lehramtlichen Text gepackt, sondern an der Kurie vorbei in ein Interview geschmuggelt, in freie Rede, die er allerdings bei der Endabnahme des Buches bestätigte. Da hat ein Papst seine wohlbedachte, aber persönliche Meinung kundgetan (und nebenbei angedeutet, dass Amt und Person nicht dasselbe sind; wie konsequent er es damit hielt, hat man bei seinem Amtsverzicht 2013 staunend realisiert).
Keine Erfindung von Franziskus
Kurz, das verbale Ausgrätschen hat nicht erst mit Franziskus Einzug im Vatikan gehalten. Ein klarer Fall von Kontinuität. Wahr ist aber auch, dass Franziskus es in der Disziplin der freien Papstworte zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hat. Meisterschaft, die nicht auf Perfektion schielt. Manche Dinge erklärt er so, dass allen ein Licht aufgeht. Andere Einlassungen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.
Zunächst, Franziskus will per freier Rede erreichen, dass die Leute ihm zuhören, dass sie ihn verstehen und dass sie ihr Gewissen prüfen. Er will etwas in Gang setzen, nicht nur bei den eigenen Schafen, sondern auch bei der interessierten, aber ignoranten Nachbarherde. Deshalb entlehnt er rhetorische Figuren und Sprachbilder aus anderen, nicht-päpstlichen Repertoires. Warum fesseln uns Dialoge in Filmen? Weil die Leute im Film gern gegeneinander reden, das schafft "Drama" und zieht uns ins Geschehen hinein. Franziskus baut andauernd Zwei-Satz-Dramolette in seine Monologe ein, Rede und Gegenrede, wobei er selbst in der Rolle des Beichtvaters gedacht werden kann ("Aber Pater, ich vernichte doch niemanden." "Nein? Und was ist mit dem Geschwätz, das du verbreitest?").
Noch so ein Trick, abgeschaut aus der Praxis der Freikirchen: Die wiederholte Aufforderung des Papstes ans Audienzpublikum, ihm einen bestimmten Kernsatz ein-, zweimal nachzusprechen ("Alle zusammen! Gott ist der Freund des Lebens!"). Das riecht nach Schuldidaktik der Fünfzigerjahre, gilt aber sogar der modernen Neurowissenschaft als effizient. Legion sind sodann die plastischen Sprachbilder, die Franziskus erfindet. Die Muttergottes ist keine Oberpostbeamtin, die täglich Botschaften zustellt, das Wort Gottes kann man nicht in Naftalin einlegen wie eine alte Decke, die man vor Ungeziefer schützen muss, Gläubige sollen kein Gesicht ziehen wie essigsaure Chilischoten. Als hätte der Papst Lehrbüchlein zur Mnemotechnik studiert (was er sicher nicht getan hat): Solche Bilder erschließen sich unmittelbar und ohne Vorkenntnisse, und sie bleiben hängen.
Drei Dinge Hand in Hand
Manche dieser Ausdrücke allerdings wiederholen sich. Wenn ich dem Papst so zusehe, meine ich, da spielen drei Dinge Hand in Hand: das immer wechselnde Publikum, das über immer ähnliche Dinge nachdenken soll, das Alter und die permanente Nutzung eines fremden Idioms. Mindestens drei Viertel dessen, was Franziskus öffentlich sagt, ist Italienisch. Das hat er als Kind von der Großmutter gelernt, ohne den argentinischen Akzent je zu opfern. Der Papst spricht gutes, aber kein raffiniertes Italienisch, seine Sätze sind kurz, Fehler unterlaufen ihm auch, und sein Freihand-Wortschatz ist hinreichend für eben nur fast alle Fälle. Mit diesem kleinen Handicap geht Franziskus gelassen um: Er macht sich keinen Kopf, er redet. Hätte denn, wer einfache Sprache unwürdig findet, Jesus recht verstanden?
„Manchmal wünsche ich mir im Stillen, der Papst hätte einfach mal nichts gesagt.“
Leider geht einiges von dem, was Franziskus frei von der Leber spricht, auch ins Auge. Wir erinnern uns an den peinlichen Karnickel-Vergleich, der kinderreiche katholische Familien brüskierte, namentlich arme, oder an die Aussage, Abtreibung sei wie einen Auftragskiller anzuheuern, der das Problem aus dem Weg räumt. Beide Aussagen haben einen wahren Kern, aber die Drastik in der Wortwahl verstörte und hat wohl keinen Embryo vor seiner Abtreibung gerettet, eher im Gegenteil. Auch der Satz über das angeblich würdige Schlagen von Kindern, solange man nicht ins Gesicht schlägt, war entbehrlich, ja falsch. Ein würdiges Schlagen gibt es nicht. Harmloser kam der Papst-Witz daher, der Theologinnen vergrätzte: Franziskus bezeichnete sie als "Kirschen auf der Torte". Mann, du Macho. Darf ich es zugeben? Manchmal wünsche ich mir im Stillen, der Papst hätte einfach mal nichts gesagt. Freies Schweigen statt freie Rede.
Aber was macht nun eigentlich die katholische Universalkirche mit solchen Sagern? Wie geht sie damit um, dass von Franziskus auf der ehrwürdigen Vatikan-Webseite schöne Katechesen, glanzvolle Volkspredigten und mutige Frage-Antwort-Dialoge über zwölf Seiten abrufbar sind, aber auch ein paar echte kommunikative Fehlleistungen? Passt die freie Rede des Papstes in eine Medienwelt, die jeden Halbsatz gnadenlos isoliert, verhackstückt und verhashtagt, wenn es der jeweiligen Agenda dient? Soll der Vatikan den Papst mehr zensieren, zu seinem Wohl oder dem der Kirche?
Und schließlich: Wie "zählt" das, was der Papst ins Blaue hinein redet? Gut zu wissen ist, dass das Lehramt unterschiedliche Stufen der Verbindlichkeit päpstlicher Aussagen kennt. Franziskus zeigt uns ja ziemlich klar, was päpstliche Unfehlbarkeit alles nicht ist. Ein kluger Kurienpriester sagte mir, der Vatikan müsste langsam einmal klarstellen, dass die freie Papstrede, das Papst-Interview, inzwischen eine neue Form von Verkündigung geworden ist. Es geht nicht um Dogmatik, nicht um Recht, sondern um Seelsorge. Darum, dass die Botschaft Jesu ankommt und etwas bewirkt – in welchen Worten, ist zweitrangig.