Wie sich Kirchenlehre ändern kann
"Von den Vorfahren ist alles vortrefflich geordnet; nichts Neues kann mehr geschaffen werden; ja Gott hasst die Neuerer." Sätze wie dieser zeugen von einem ganz bestimmten Kirchenverständnis: Die Kirche verkündet überzeitliche Wahrheiten, die nicht erneuert oder modernisiert werden müssen. Schon Adelmann von Lüttich denkt im 11. Jahrhundert so. Die Diskussion, inwieweit sich der Glaube weiterentwickelt oder doch immer gleich bleiben muss, begleitet das Christentum seit seiner Entstehung. Das Bild der sich nie verändernden Kirchenlehre wurde von vielen Konzilen und Päpsten vertreten, obwohl sich die Lehre in bestimmten Punkten durchaus geändert hat.
Doch Kirchenlehre ist nicht gleich Kirchenlehre: Die verbindlichste Form der Lehre stellen Dogmen dar. In den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte legen Konzile Dogmen oft in Krisensituationen fest, wenn aufgrund eines Konflikts die Gefahr einer Kirchenspaltung besteht. Dogmen sollen mit einer verbindlichen Lehre Streit beenden. Zu diesen Dogmen gehören etwa die Definition der Dreifaltigkeit, das Wesen Jesu Christi als wahrer Gott und wahrer Mensch sowie die Rolle Marias als Gottesmutter. Neben den Dogmen sind viele Glaubenssätze der Bibel verbindlich, wie etwa die zehn Gebote. Dazu kommen Traditionen, die sich unter den Gläubigen entwickelt haben. Sie wurden nie offiziell dogmatisiert, aber auch nie hinterfragt. Ein Beispiel dafür ist etwa die Heiligenverehrung.
Der gewollte Traditionsbezug
Auf diesen verschiedenen Ebenen hat sich die Lehre der Kirche über die Jahrhunderte in ganz unterschiedlichem Maße verändert – aber ohne zuzugeben, dass man etwas ändert. Brüche mit der Tradition werden nie als solche bezeichnet, sondern das Lehramt bedient sich dreier Kunstgriffe: Mal führt man die Lehre angeblich auf einen früheren, "reineren" Zustand zurück (nach der Definition des Historikers John O'Malley das "ressourcement"), mal wendet man nur die eine Lehre auf eine neue Situation an ("aggiornamento"). Manchmal werden gewisse Lehren aber auch schlicht nicht weiterverbreitet, also absichtlich vergessen.
Für alle drei Formen lassen sich Beispiele finden: Als das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) mit der Erklärung "Nostra aetate" seine Haltung zu anderen Religionen bestimmt, schlägt diese zum Teil deutlich andere Töne an als die Kirche Jahrhunderte zuvor. Das Konzil von Florenz hielt 1442 noch fest, dass "niemand außerhalb der katholischen Kirche – weder Heide noch Jude noch Ungläubiger oder ein von der Einheit Getrennter – des ewigen Lebens teilhaftig wird, vielmehr dem ewigen Feuer verfällt, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist". In "Nostra aetate" heißt es dagegen im Hinblick auf nichtchristliche Religionen: "Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet."
Die Konzilsväter nutzen das "ressourcement", um diese Wende zu kaschieren. So schreiben sie in Bezug auf das Judentum, dass "alle Christgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung dieses Patriarchen eingeschlossen sind und dass in dem Auszug des erwählten Volkes aus dem Lande der Knechtschaft das Heil der Kirche geheimnisvoll vorgebildet ist". Sie verweisen zudem auf Paulus, der von seinen Stammverwandten sagt, dass "ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter und dass aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt" (Röm 9,4-5). Durch solche Formulierungen wird eine Kontinuität der kirchlichen Tradition konstruiert.
Ein Fall von "aggiornamento" ist die Erklärung der Realpräsenz Christi in der Eucharistie. Ursprünglich steht sie im Rahmen des platonischen Urbild-Abbild-Schemas, laut dem alle Dinge zwei Ebenen haben: eine materielle und eine ideelle – und dass Menschen die für das Wesen der Dinge bedeutsamere ideelle Ebene nicht wahrnehmen können. Auf dieser Ebene geschehe die Verwandlung von Brot und Wein. Im Mittelalter verbreitet sich dann die Rezeption der aristotelischen Metaphysik, laut der alle Dinge aus Stoff und Form bestehen – der plantonische Ansatz einer ideellen Ebene kommt hier nicht vor. Daraufhin passt die Kirche die Erklärung ihrer Lehre über die Wandlung an.
Gewolltes Vergessen
Ein Fall von gewolltem Vergessen ist passenderweise nicht mehr so im Gedächtnis: Im Mittelalter versäumt es noch beinahe keine Synode, das Zinsverbot für Christen zu besprechen. Im Laufe der Zeit wird es allerdings immer weniger rezipiert, bis es nirgends mehr erwähnt wird. Als sich die katholische Soziallehre im 19. Jahrhundert dann dem Thema zuwendet, stellt sie zwar ethische Vorgaben für das Zinsnehmen auf, von einem generellen Verbot ist aber keine Rede mehr.
Dogmen als verbindlichste Form der Kirchenlehre wurden nie geändert. Hier besteht die Vorgehensweise dann eher darin, in Zweifel zu ziehen, ob es sich wirklich um ein Dogma handelt. Ein Beispiel dafür ist die Lehre des Augustinus im Hinblick auf den Kindstod. Er geht aufgrund der Erbsünde von einer radikalen Verlorenheit des Menschen von Geburt an aus. Das einzige, das den Menschen vor der ewigen Verdammnis rettet, ist die Taufe. Ein Kind, das vor der Taufe stirbt – was in vergangenen Zeiten nicht selten vorkam – ist aus dieser Sicht unrettbar verloren. Dogmatisiert wird seine Lehre auf der Synode von Orange 529. Nachfolgende Lehrstücke und Konzilien bemühen sich allerdings, Augustinus' Lehre in ihrer Ausschließlichkeit abzumildern. Da hilft die Diskussion darüber, ob die in Orange verabschiedeten Lehrsätze wirklich letztverbindliche Dogmen sind.
Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf nennt alte Traditionen und vergessene Lehren einen "Schatz" für heutige Reformen der Kirche. Aber das hängt von den jeweiligen kirchenpolitischen Zielsetzungen ab. Denn welche Tradition weiterverfolgt wird und welche nicht, entscheidet das römische Lehramt. Bis ins 19. Jahrhundert gibt es noch viele lokale und vielfältige Traditionen. Doch auf die Umwälzungen der Französischen Revolution antwortet die katholische Kirche im 19. Jahrhundert mit einer strikten Zentralisierung und einer konstruierten weltweiten Uniformität. 1803 schreibt ein gewisser Bartolomeo Alberto Cappellari, dass die Kirche zerfalle und sich in einer geradezu apokalyptischen Bedrohungssituation befinde. Darauf könne sie nur mit einer Sicherung der päpstlichen Autorität, der Festsetzung seiner Unfehlbarkeit und einer umfassenden Zentralisierung reagieren. Besagter Cappellari wird 1831 zu Papst Gregor XVI. – und setzt seine Linie durch. Das führt auch zu einer Umdeutung der Geschichte. So gibt das Konzil von Trient zwar eine Liturgie vor, alte regionale Gottesdienstformen dürfen jedoch weitergeführt werden. Im Bistum Münster wird etwa noch bis in die 1860er Jahre der Gottesdienst nach einer lokalen Liturgie gefeiert. Doch das 19. Jahrhundert interpretiert die Beschlüsse des Trienter Konzils dahingehend um, dass ausschließlich im "tridentinischen Ritus" gefeiert werden darf. Es intervenieren junge, restaurative Kleriker beim Münsteraner Bischof und fordern die diözesanweite Abschaffung alter Riten.
Ein römisches Privileg
Das Erste Vatikanische Konzil (1869-1870) sichert dem Papst dann das Privileg, letztinstanzlich die Heilige Schrift und die Tradition auszulegen. "Dem Lehramt geht es dabei nicht um die Breite der Tradition, sondern es sucht sich willkürlich Traditionen aus, die dann als ewig und allgemeingültig definiert werden", sagt der Bochumer Dogmatiker Georg Essen gegenüber katholisch.de. In diese Kategorie falle etwa der Umgang der Päpste mit der Frage der Frauenweihe, die keineswegs derart abschließend verboten sei, wie es etwa Johannes Paul II. behaupte.
Laut Essen wird auch im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) so verfahren: Man habe damals erkannt, dass die Kirche ihren Frieden mit der Moderne machen müsse, um die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen. "Man hat dann einfach einen großen Schritt zurück gemacht und sich auf die Tradition der Kirchenväter bezogen, die die Kirche als Gemeinschaft und Volk Gottes sahen", so Essen. Auch hier habe man sehr selektiv auf die Tradition zurückgegriffen. Jahrhunderte der Kirchenentwicklung würden so ausgeblendet.
Es wäre dem Lehramt auch heute möglich, die Kirchenlehre zu ändern und sich der Diskussion über Themen wie Zölibat, Synodalität, Frauenweihe oder Sexualmoral zu öffnen. Den Willen dazu kann Georg Essen aber nicht feststellen. Als Grund vermutet er den Wunsch des Vatikan nach Machterhalt, aber auch eine Art Nostalgie. "Es herrscht dort wohl die Fiktion vor, dass es im 19. Jahrhundert ein erfolgreiches Konzept von Kirche gab, an dem man festhalten müsse. Aber das funktioniert nicht." Als Symptom dieses Festhaltens sieht er das Pontifikat von Papst Johannes Paul II.: Er will die katholische Kirche auf eine globalisierte Welt einstellen, indem er sie nach außen öffnet und in alle Welt reist. Nach innen setzt er jedoch auf eine strenge Zentralisierung. Durch eine globale Einheitlichkeit soll die Kirche zusammenhalten.
Franziskus sei das mit seinem (verbalen) Bezug auf Regionalität und Synodalität in der Kirche wohl bewusst, vermutet Essen. Das System der Zentralisierung und einer vorgeblich dauerhaft einheitlichen Kirchenlehre hat er aber nicht grundlegend aufgebrochen. "Entweder hat er keinen Blick dafür oder traut sich angesichts steigender Polarisierung in der Kirche nicht."
Die Lehre der Kirche zu ändern, ist also keineswegs unmöglich – an historischen Beispielen mangelt es nicht. Doch die konkrete Umsetzung hing früher und hängt heute stets auch von kirchenpolitischen Erwägungen ab.